Warum?

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Niklas und Julia wollten zelten gehen. Mit dem Fahrrad sollte es zu der malerischen Bucht am Rhein gehen, die sie schon öfter besucht hatte. Um Punkt vier sitzt Julia auf der Treppe vor der Haustür ihres Elternhauses. Neben ihr liegen ein Schlafsack und eine kleine Tasche mit Klamotten und ein bisschen Verpflegung. Sie ist aufgeregt. Zwei volle Tage und Nächte mit ihrem Freund. Dafür musste sie ihre Eltern wochenlang bitten, belügen und einige Schläge einstecken, bis sie die Erlaubnis bekam, mit ,,einer Freundin" loszufahren. Jetzt sind sie beide weg, weswegen Niklas keine Gefahr droht. Immer wieder wirft sie einen Blick auf ihr Handy. Mittlerweile ist er schon eine halbe Stunde überfällig. Sie denkt an die schönen Nachmittage, Abende, Nächte mit ihm. Er hat ihr das Leben beigebracht, ihr gezeigt, wie sie glücklich sein kann. Er ist ihre Sonne, ihr Grund zu leben. Eine Stunde Verspätung. Sie beginnt, sich Sorgen zu machen. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Hoffentlich hat ihr Vater nichts herausbekommen und nimmt Rache. Sie ruft ihn zum zehnten Mal an, schreibt eine weitere SMS. Bekommt wieder keine Antwort. Trotzdem bewegt sie sich nicht von ihrem Platz. Er wird kommen, davon ist sie überzeugt. Als das Telefon doch noch klingelt, erschreckt sie sich, aber nimmt sofort ab. Doch es ist nicht Niklas. Eine Frau teilt ihr mit, Niklas hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Julia sollte sofort kommen. Mechanisch legt sie auf. Ihr Herz kommt fast zum Stillstand, beginnt zu rasen. Ihr Verdacht fällt auf ihren Vater. Kann er es gewesen sein? Doch dann steht sie auf, nimmt ihr Fahrrad, fährt los. Sie weiß, wo das Krankenhaus ist. Der Schlafsack und die Tasche liegen achtlos zurückgelassen auf der Treppe. Sie fährt mechanisch, achtet auf nichts, wird mehrmals fast angefahren. Irgendwann ist sie da, stellt ihr Fahrrad achtlos irgendwo ab, rennt hinein. An der Information steht eine dicke Frau, Julia möchte sie packen und wegrollen, während diese mit der Rezeptionistin diskutiert. Schließlich ist Julia dran. ,,Niklas Langer", sagt sie schlicht. Ihre Stimme bricht nicht, sie ist kräftig und klar. Doch ihre Augen sehen nicht die Rezeptionistin, sondern Blut und Splitter. Die junge Frau sagt ihr die Zimmernummer, gibt ihr eine kurze Beschreibung und Julia geht los. Sie geht wie mechanisch, die Augen starr ins Nichts gerichtet. Dann ist sie da. Sie betritt den Raum, in dem bereits Niklas' ganze Familie versammelt ist. Alle weinen, aber seine Mutter schließt Julia sofort in die Arme, so, wie sie das Mädchen ins Herz geschlossen hat, als sie es zum ersten Mal getroffen hat. Julia lässt sich in die Umarmung fallen, genießt kurz die Geborgenheit. Dann löst sie sich sanft von ihr und setzt sich an die Bettkante. Niklas ist an diverse Geräte angeschlossen, sein ruhiger Herzschlag sendet leise Pieptöne durch den Raum. Sanft streicht Julia über seine zerschrammte Wange, die sie so oft geküsst hat. Seine sturmgrauen Augen sind geschlossen. Eine Träne löst sich aus ihrem rechten Auge und fließt langsam über ihre Wange, so perfekt im Vergleich zu seiner. Sie fällt auf die sterile weiße Decke. Ihr folgen weitere, doch Julia hält den Blick unverwandt auf Niklas. So, als könne ein Blinzeln, ein Wegblicken, sein Ende bedeuten. Auf einmal schlägt er die Augen auf, der Blick leicht verschleiert, doch er klart schnell auf. ,,Mama, Julia, Lea", krächzt er, ,,Papa, Simon." Alle eilen an sein Bett. Julia und seine Mutter halten seine Hände. ,,Streng dich nicht an", sagt sein Vater, versucht seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Niklas schafft es, seinen Mund zu einem kleinen Lächeln zu verziehen. ,,Das wird wohl erst Mal nichts mit dem Zelten", versucht Julia, einen Witz zu machen. Ihre Stimme bricht am Ende. Alle ringen sich ein Lächeln ab, als Niklas sagt: ,,Wieso nicht?" Eine weitere Träne löst sich aus ihren Augen, Niklas hebt die Hand und wischt sie ab. ,,Nicht weinen." Sie blinzelt die Nächste weg. Auf einmal gerät das stetige Piepen ins Stolpern, ein Arzt stürmt herein, wirft einen Blick auf die Geräte, schiebt Julia weg, um an Niklas zu kommen. Sie sieht nicht, was passiert. Dann beruhigt sich das Piepen, doch der Arzt wirft allen einen deprimierten Blick zu. ,,Es ist Zeit", sagt er. Ein herzzerreißendes Schluchzen bricht aus Niks Mutter heraus. Julia stürzt zurück an die Bettkante. ,,Geh nicht", bittet Lea, seine kleine Schwester und wischt sich eine Träne ab. ,,Ich liebe euch für immer. Bitte erinnert euch daran, wenn ich nicht mehr da bin. Ich habe euch immer geliebt und werde es immer tun." Dann verstummt er. Seine wunderschönen Augen schließen sich, das Piepen wird langsamer. Julia beugt sich vor, haucht einen letzten Kuss auf seine Lippen, flüstert ihm ins Ohr: ,,Ich liebe dich auch. Forever and always." Einen Moment öffnen sich seine Augen. Dann gerät das Piepen ins Stolpern, stockt einmal, zweimal. Setzt aus. Beginnt erneut. Er kämpft. Es setzt erneut aus. Alle halten den Atem an. Ein Piepen. Noch eins. Stille. Die Frequenz zeigt eine durchgehende Gerade. Es ist vorbei. Der Kampf, der Schmerz, die Last des Lebens. Dann kommen die Tränen. Immer schneller tropfen sie auf dein Gesicht, seine Hände, die Decke. Doch es ist ein stilles Leiden. Niemand unterbricht dieses Ende, das viel zu früh und viel zu abrupt kam. Das Licht ist erloschen.

Dark MomentsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt