Kapitel 1

253 21 13
                                    

Als ich am Hauptbahnhof Bremen stand, dachte ich zum ersten Mal über die Möglichkeit nach, dass meine Cousine möglicherweise gar nicht wollte, dass ich bei ihr wohnte. Doch den Gedanken schob ich schnell beiseite. Ich würde es irgendwie schaffen. Zum ersten Mal wählte ich die Nummer, die ich vor wenigen Wochen per E-Mail bekommen hatte. ,,Bachl?”, meldete sich eine Frauenstimme, die sich nur sehr schwer als die meiner Cousine erkennen ließ. ,,Sara?”, krächzte ich, räusperte mich und versuchte es noch mal. ,,Sara? Ich bin´s, Julia.” Ein heller Schrei der Begeisterung erklang. ,,Du hast dich wirklich gemeldet! Du glaubst nicht, wie sehr ich mich freue! Wie geht´s?” Ich schluckte. ,,Ich habe ein Problem.” Sara lachte. ,,Nur, weil du ein Problem hast, meldest du dich? Nein, keine Angst, ich freue mich, von dir zu hören. Worum geht´s?” Ich schluckte noch mal. ,,Ich bin am Bremer Haupt-bahnhof. Kannst du mich abholen? Ich erzähle es dir dann.” Sara brauchte einen Moment, um das zu verdauen. Dann sagte sie: ,,Eine Sekunde.” Ich hörte sie im Hintergrund leise mit jemandem reden, wahrscheinlich mit James, ihrem Rocker-freund aus Amerika, den sie zu heiraten gedachte und wegen dieser Hochzeit hatte sie per Mail Kontakt zu mir aufgenommen. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie mit sechzehn für ein Jahr in Amerika gewesen war und dann war sie einfach dort bei ihm geblieben, hatte den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen und war zum schwarzen Schaf der Familie geworden. ,,Julia?” Ich zuckte zusammen, als mich ihre Stimme am Telefon aus meinen Gedanken riss. ,,Ja?” - ,,Wo bist du gerade?” Ich atmete erleichtert auf. ,,Noch auf dem Gleis.” - ,,Komm zum Haupteingang. Ich hole dich dort ab. Du hast hoffentlich nicht zu viel Gepäck?” - ,,Nein.” Wir verabschiedeten uns voneinander und ich war froh, dass sie mich nicht direkt abgewiesen hatte. Zwanzig Minuten später klingelte mein Handy. ,,Wo stehst du?”, fragte Sara am anderen Ende der Leitung. Gleichzeitig fragte das eine schwarzhaarige Schönheit mit einem Kurzhaarschnitt und pinkfarbenen Strähnen direkt neben mir. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen, ich tippte sie auf die Schulter und antwortete: ,,Hier.” Sara drehte sich um, legte auf und schloss mich in die Arme. ,,Du hast dich ziemlich verändert”, stellte sie fest. ,,Du auch”, antwortete ich und schmiegte mich in die Umarmung. Wie lange hatte mich schon kein Familienmitglied mehr so herzlich umarmt? Sara lachte leise. ,,Aber du warst erst neun, als ich dich das letzte Mal gesehen habe. Das ist jetzt neun Jahre her”, stellte sie fest. Ich schniefte. ,,Jetzt bin ich 18 und habe ein gebrochenes Herz. Was ist besser?”, fragte ich rhetorisch. ,,Das klingt nach einer schlimmen Geschichte. Lass uns fahren. James ist schon ganz wild darauf, dich kennenzulernen.” Unwillig löste ich mich aus ihrer Umarmung. Wir stiegen in ihr kleines Auto und fuhren zu ihrer Wohnung. Es regnete immer noch. Sara und James hatten eine kleine Wohnung an der Weser gemietet, im obersten Stockwerk und mit einer Fensterfront in Richtung Fluss. Während ich noch leicht peinlich berührt im Flur stand, war Sara verschwunden und tauchte jetzt mit einem großen, gut aussehenden, schwarzhaarigen Typen auf, der nur James sein konnte, so, wie ihre Hände verschränkt waren. Der Amerikaner fackelte nicht lange und nahm mich ebenfalls kurz in den Arm. ,,Hi, ich bin James, der Freund von Sara.” Sein Akzent klang noch deutlich durch, aber er passte zu ihm. ,,Julia”, stellte ich mich etwas knapper vor und hielt mühsam die Tränen angesichts so viel glücklicher Liebe zurück. Schnell bückte ich mich und band umständlich meine Schuhe auf, damit nur keiner diese Tränen in meinen Augen sah. Bis ich damit fertig war, hatten sich die beiden glücklicherweise in die Küche verzogen und ich konnte mir in Ruhe noch mal die Augen wischen. Als ich die Küche betrat, fand ich nur Sara vor. Sie stand an der Kaffeemaschine. ,,Willst du was essen?”, fragte sie vorsichtig. Ich schüttelte den Kopf. Seit den ganzen Ereignissen hatte ich keinen Appetit. Sie setzte sich zu mir an den Küchentisch. ,,Dann erzähl mal.” Und ich erzählte.

Ich traf Niklas vor einem Jahr bei den Nibelungenfestspielen in Worms, einer Stadt am Rhein, etwa eine Autostunde von Frankfurt, meiner Heimat, entfernt. Ich hatte mir in der Pause ein Wasser gekauft und beim Umdrehen nicht aufgepasst, sodass ich frontal in ihn hineinlief. Seine sturmgrauen Augen hielten meinen Blick fest. ,,E…Entschuldigung”, stotterte ich. ,,Schon gut”, beruhigte er mich mit seiner tiefen warmen Stimme. Ich starrte immer noch in seine Augen wie ein paralysiertes Kaninchen und auch er schien sich nicht von meinem Anblick lösen können, obwohl mir schleierhaft war, wieso er überhaupt noch einen Blick an mich verschwendete. Ich war seit jeher ein Mauerblümchen gewesen. ,,Schönes Kleid”, sagte er. ,,Danke”, antwortete ich und sah, genau wie er, an mir herunter. Ich trug ein schwarzes Kleid ohne Träger, jedoch war etwas unterhalb meiner Brüste schwarze Spitze angebracht, die sich über meine Schultern zog und meine Arme bedeckte. Es endete etwas über dem Knie. Der Moment wurde von einer ungeduldigen Stimme unterbrochen, die uns zurief, wir sollten uns gefälligst beeilen, andere Leute wollten auch noch etwas kaufen. Er nahm mich am Handgelenk und führte mich aus der Menge hinaus an einen etwas leereren Ort. ,,Ich bin Niklas”, stellte er sich dann vor. ,,Julia”; antwortete ich, immer noch ziemlich unfähig zu sprechen. Niklas grinste. ,,Kannst du auch ganze Sätze sagen? Oder”, bei dem folgenden Gedanken wich ihm das Grinsen aus dem Gesicht. ,,Oder du willst meine Gesellschaft gar nicht, findest mich aufdringlich und peinlich und überlegst dir gerade die passende Ausrede, um verschwinden zu können. Oje, das wird es sein. Keine Angst, ich bin schon weg.” Und tatsächlich machte er hektische Anstalten, zu verschwinden. Endlich konnte ich mich aus meiner Starre lösen und hielt ihn am Arm fest. ,,Nein, bitte bleib. Es ist nur so, dass… Nun ja, ich bin ziemlich schüchtern und… Na ja, es kommt halt ziemlich selten vor, dass ein Junge mich bemerkt und… mit mir redet.” Ich seufzte. ,,Wenn du dich jetzt unwohl fühlst, kannst du natürlich auch gehen, ich meine… Ich zwinge dich nicht, mit einem sozial unterentwickeltem Mauerblümchen zu reden.” Niklas blieb sofort stehen. ,,Wenn du mit sozial unterentwickelt Außenseiter meinst, nun dann bin ich wohl auch so.” Aber er grinste. Ich schnappte nach Luft. ,,Du und ein Außenseiter?! Das glaube ich nicht!” Mit einem traurigen Lächeln zuckte er mit den Schultern. ,,Ist aber so”, meinte er.
Den Rest der Pause und auch nach der Vorstellung redeten wir eine Menge und am Ende tauschten wir Handynummern. Es hatte sich herausgestellt, dass er ebenfalls in Frankfurt wohnte und so verabredeten wir uns bald. Und noch schneller wurden wir erst mal Freunde. Doch er übte immer noch die selbe Anziehungskraft auf mich aus wie am Anfang. Ich dachte fast ausschließlich an ihn. Ich träumte von ihm. Ich fieberte unseren Treffen entgegen. Und mit jedem Wort, mit jeder Berührung wurde es unerträglicher. Doch ich tat nichts, aus Angst, ihn zu verlieren. Ca. einen Monat nach den Nibelungenfestspielen gingen wir zusammen feiern. Ich trank keinen Alkohol, aber die Stimmung war so gelöst, so entspannt, so wahrheitsfördernd, dass ich ihn am Ende des Abends einfach küsste. Er hatte mich nach Hause begleitet und wir standen an meiner Haustür. ,,Es war ein toller Abend”, sagte Niklas. Er stand dicht vor mir. ,,Ja”, flüsterte ich atemlos. Seine grauen Augen hielten mich im Bann. Und dann setzte mein klarer Verstand für wenige Sekunden einfach aus und ich fand meine Lippen auf seinen wieder. Sie waren warm und weich und er schmeckte nach Schokolade. Die Schokolade, die wir zuvor noch geteilt hatten. Ich versank komplett in diesem Kuss, der so einzigartig war, wie ich es noch nie erlebt hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten wir uns voneinander, leicht atemlos und mit roten Wangen. Peinlich berührt von so viel ungewohnter Spontaneität meinerseits senkte ich den Kopf und Niklas fuhr sich mit der Hand durch die Haare. ,,Ich… Ich glaube, ich sollte gehen”, murmelte er. Enttäuscht wand ich mich ab und kramte in meiner Handtasche nach meinem Schlüssel. Ich hörte seine Schritte auf dem Weg. Obwohl ich meine Augen zusammenkniff, begann die Tränen zu laufen. Ich hatte mit diesem Kuss alles kaputt gemacht. Ich unterdrückte gerade noch so ein Schluchzen, damit er nicht merkte, wie sehr seine Ablehnung mich traf. Ich hatte meine Schlüssel ertastet und wollte sie aus der Tasche holen, als sich eine Hand auf meinen Arm legte. ,,Julia?”, fragte Niklas leise. Ich fixierte das Innere meiner Handtasche und nickte. ,,Ich glaube… Oje, weinst du?” Ich hatte ein leises Schluchzen nicht unterdrücken können. Er drehte mich vorsichtig herum und drückte mich nach einem besorgten Blick in mein tränenüberströmtes Gesicht an sich. Ich konnte mich nicht länger beherrschen und begann, vor lauter Verzweiflung in sein Shirt zu schluchzen. ,,Schhhhhhh, alles ist gut, du musst nicht weinen, was ich gerade sagen wollte, war, dass ich zu geflasht war, dass ein wunderschönes, kluges, lustiges, perfektes Mädchen wie du ihre Aufmerksamkeit mir, einem Außenseiter, wie er im Buche steht, schenkt. Ihre Aufmerksamkeit und ihre Zuneigung. Damit hätte ich nie gerechnet. Ich meine… Ich glaube, nein, ich weiß, ich habe mich ziemlich in dich verliebt.” Das alles murmelte er mir ins Ohr. Ich hob meinen Kopf. ,,Wirklich?”, fragte ich unsicher nach. ,,Ja”, antwortete er. ,,Ich mich auch”, murmelte ich und diesmal war er es, der seine Lippen auf meine senkte und mich ein weiteres Mal in weit entfernte, glückliche Sphären katapultierte.

Hey Leute, ich bin´s wieder! Hier noch das erste Kapitel, denn ich habe ne Menge vorgeschrieben. Ich hoffe, es gefällt euch und ihr rennt trotz des bisschen Schmalzes und Kitsches nicht direkt weg. ; ) Fürchtet euch nicht, kritisch zu kommentieren. Ich beiße nicht.
 LG    Vany

Dark MomentsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt