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Verwundert blickten alle dem sonderbaren Hausmädchen nach. Leo spürte ein Kribbeln im Nacken und verstand nun, warum Kazuya unbedingt weg wollte.
Mit einem beklommenen Gefühl griff er nach einem Brötchen, ohne wirklichen Hunger zu haben. Die anderen, alle bis auf Kentin und Kazuya, schienen von der Abartigkeit der Situation nicht beunruhigt zu sein.
Sie hatten keinen Handy-Empfang. Na und?
Das Haustelefon ging nicht. Und?
Der Mod, der sie hier zusammengerufen hatte, war nicht erschienen. Gab Schlimmeres.
Irgendwie fielen sie ihm gerade alle auf den Wecker. Vielleicht war es besser, manche Leute nicht im wahren Leben kennenzulernen.
»Habt ihr gestern die unheimliche Melodie gehört, die durch das Haus schallte?«
Ein Klirren verriet, das Nathaniel sein Messer fallen gelassen hatte und nun erschrocken guckte.
»Ja, ich. Ich dachte, ich hätte das geträumt...«
Kim machte eine abwehrende Handbewegung. »Wahrscheinlich ein Handy.«
»Handys funktionieren hier nicht! Wie hohl bist du denn, dass du das noch nicht begriffen hast?«, fuhr nun Kazuya sie an. Er hatte sich vor Nervosität die Fingernägel blutig geknabbert.
»Kein Grund, mich gleich anzufahren, Kurzer!«
Kentin hob die Hände und beschwichtigte die Situation.
»Leute... kein Grund, sich anzuschreien. Wir haben alle ein bisschen unruhig geschlafen, schätze ich.«
Leo schmunzelte bei seinen Worten, aber es funktionierte, denn die beiden beruhigten sich. Sie waren alle ein bisschen dünnhäutig, das war spürbar.
Kim wandte sich wieder ihrem Essen zu und Kazuya zerfledderte ein Brötchen, als das Licht ein wenig gedimmt wurde. Überrascht blickten alle auf, als ein Beamer ein weißes Kästchen auf die freie Fläche über dem kalten Kamin erleuchtete.
»Eine Videobotschaft, oder was? Wollte er nicht herkommen? Das ist doch blöde.«, nuschelte Kim und Viola, die sich dem Mädchen angeschlossen hatte, nickte. Iris und Nathaniel tauschten einen Blick und der junge Lehrer rieb sich die Stirn.
Das leuchtende Kästchen wurde noch etwas heller, doch nun zeichnete sich deutlich eine schwarze Silhouette davor ab. Ein hoher Sessel, rechts und links lagen elegante Hände in Handschuhen auf den Lehnen. Das weiße Licht aus dem Hintergrund machte es unmöglich, das Gesicht der Person zu sehen, die in dem Sessel saß.
»Abgefahren.«
Langsam fing Kim an, die gesamte Gruppe zu nerven. Wie hatten sie sie im Chat ertragen können? Leo rollte mit den Augen und nahm Kazuyas Hand, die schon blutete.

»Meine lieben Freunde...«

Die Stimme der Person auf dem Bild war männlich, zu tief, um echt zu sein. Wahrscheinlich wurde sie mit einem Verzerrer ein wenig unkenntlicher gemacht.

»...ich freue mich, zu sehen, dass ihr euch alle versammelt habt. Ich entschuldige mich in aller Form, nicht selber anwesend zu sein, doch meine Anwesenheit würde das, was ich vorhabe, nur behindern. Ihr wollt wissen, was ich meine? Nun, sagen wir, es ist ein kleines Spiel. Eines, bei dem ihr euch so kennenlernt, wie ihr alle seid. Denn niemand von euch ist so perfekt, wie er tut. Ihr alle seid tief in euch drin egoistische kleine Scheißer, die nur an sich denken. Vergebt mir meine Ausdrucksweise. Ich werde eure schlechten Seiten nach draußen kehren, ob es euch gefällt oder nicht. Hier könnt ihr euch nicht hinter einem Bildschirm verstecken und eure Beleidigungen eurem Monitor zubrüllen. Hier wird aufgedeckt, was ihr für Menschen seid. Ach, und damit das Ganze nicht zu einfach wird, sollte ich euch sagen, dass es keine Möglichkeit für euch gibt, dieses Haus zu verlassen, bis nicht alles offen liegt. Jede eurer schlechten Seiten wird entlarvt und wann immer das geschieht, geht ein Spieler vom Platz. Ihr fragt euch, was ich meine? Habt ihr auch alle artig den ersten Morgenkaffee genossen?«

Die Blicke der jungen Leute gingen auf ihre Hände, die zum Teil noch immer an den Kaffeetassen lagen und nun ruckartig davon abließen. Alle sahen sich ängstlich an, da niemand wusste, was nun geschehen würde. Quälende Minuten vergingen und als alle bereits aufatmen wollten, fing Kim plötzlich an, krampfhaft zu husten. Sie stand auf und hustete nach Atem ringend. Viola sprang auf und versuchte, ihr mit sanften Schlägen auf den Rücken zu helfen, doch es brachte nichts. Sie lief blau an, Schaum bildete sich vor ihrem Mund und von einer auf die nächste Sekunde brach sie reglos zusammen.
Viola und Iris schrien auf und beugten sich über das Mädchen. Kentin, der als Soldat Erste Hilfe beherrschte, schubste sie weg und hob ihren Kopf. Mit der Hand wischte er den Schaum weg und legte sein Ohr an ihre Lippen. Er hielt ihr die Nase zu und beatmete sie, bevor eine Herzmassage durchführte. Das machte er gefühlte zehn Minuten lang, während das verstörende Bild des schwarzen Mannes in dem Sessel noch immer an der Wand lag.
Erschöpft ließ Kentin schließlich von ihr an und fühlte ihren Puls.
»Nichts zu machen... Der Kaffee muss vergiftet gewesen sein.«
»Aber warum dann nur sie? Was ist das für ein krankes Spiel?«, schluchzte Viola aufgebracht und zittrig.

»Es tut mir leid für CherryPie, wirklich. Aber mal ehrlich. Hat sie euch nicht auch genervt mit ihren Geschichten über Kerle, Partys und Orgien? Naja, jedenfalls ist das Spiel hiermit eröffnet. Und keine Sorge, ihr werdet nicht so enden wie sie. Für jeden von euch wird es etwas geben...«

»Warum machst du das? Hast du uns nur hier her geholt, um uns wie die Fliegen abzuschlachten?«
Kentin richtete sich vom Boden auf.

»Oh, du bist Cookie Dough. Hm, vielleicht ist es um dich schade, du machst einen ganz anständigen Eindruck. Aber auch du bist genauso verdorben wie alle anderen hier. Darf ich dich an dein kleines Abenteuer letzte Nacht erinnern? Nein, nein... schlimmer Junge. Aber du irrst dich. Ich habe euch nicht hergeholt, um euch einfach abzuschlachten. Ihr habt eine Chance. Oder vielleicht auch nur einer von euch. Ihr fragt euch wie? Tja, ganz einfach. Findet einen Ausgang. Oder findet mich. Ihr werdet sicher bald feststellen, dass dieses Haus mehr Geheimnisse birgt, als ihr erwartet hattet. Es ist größer, tückischer und gefährlicher. Also achtet auf eure Schritte... Viel Spaß.«

Mit einem letzten grausamen Lachen wurde der Bildschirm schwarz und die jungen Leute starrten die leere Wand mit offenem Mund an.
Das konnte doch nur ein dummer und schrecklicher Alptraum sein?!
Leo sah sich in der Gruppe um.
Alle waren erstarrt und konnten nicht glauben, dass sich das gerade wirklich abgespielt hatte. Waren sie alle in eine Falle getappt? Wie Fliegen in ein gigantisches Spinnennetz, in dessen Mitte der geheimnisvolle Mod saß?
Sein Blick wanderte zu der am Boden liegenden Kim. Ihre Augen waren inzwischen geschlossen, Kentin hatte das getan. Aber noch immer lag Schaum auf ihren Lippen und ihre Augenlider waren blau.
Sie war einfach umgekippt... tot.
Verdammt.
Kentin zog ein Tischtuch von einem Beistelltisch und bedeckte sie damit, bevor er sich zu den anderen umwandte.
»Wir müssen einen Plan machen. Ich habe keinen Bock, hier wie ein Versuchstier geopfert zu werden!«
Viola schluchzte und ließ sich von Iris trösten, die nicht minder verängstigt aussah. Jonathan sah ebenfalls aschfahl aus.
Leo bedauerte ihn irgendwie am meisten. Er hatte kleine Kinder zuhause und saß nun in einem solchen Horror fest. Nathaniels Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Er war buchstäblich leer, wie der einer mechanischen Puppe, der man den Saft abgedreht hatte. Leo wandte den Kopf zu seinem besten Freund um. Kazuya hatte Blut an den Lippen, weil er nicht aufhören konnte, an seinen Fingern zu nagen.
Eine schreckliche Angewohnheit und das deutlichste Zeichen seiner Angst. Leo nahm eine seiner Hände und hielt sie fest.
»Hör auf damit. Wir kommen wieder nach Hause.«, murmelte er leise.
»Und wie willst du das hinkriegen?« Iris funkelte ihn an, als hätte er ein Verbrechen begangen, seinem Freund Mut machen zu wollen.
»Das weiß ich nicht, aber hier rumsitzen wird sicher nichts bringen... Ich glaube nämlich, dass die Angestellten hier, der Fahrer und das Mädchen, mit dem Kerl unter einer Decke stecken. Meint hier, wir werden hier bis in alle Ewigkeit versorgt? Wir müssen versuchen, abzuhauen!«
Iris wollte etwas antworten, doch Kentin legte ihr seine Hand auf die Schulter.
»Leo hat Recht. Hier rumsitzen bringt uns gar nichts.«
Jonathan stand auf und nickte. »Ich sehe das genauso. Wenn wir hier bleiben, geben wir uns geschlagen. Genauso gut könnten wir uns gleich alle gegenseitig umbringen.«
Auch Nathaniel schien seine Energie wiedergefunden zu haben, denn er nickte ebenfalls.
»Lasst uns hier abhauen.«
Mit verweinten Gesichtern blickten die Mädchen von einem zum anderen und nickten schließlich.
Sie warfen einen letzten Blick auf den Körper, der unter dem Tischtuch verborgen war und verließen hinter den Männern das Esszimmer.

Spieluhr [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt