Sixteen

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Leo zuckte im Schlaf zusammen und erwachte schließlich. Er streckte sich vorsichtig und spürte das beruhigende Gewicht und die Wärme Kentins, der neben ihm lag und sanft atmete.
Er lächelte und kuschelte sich etwas an ihn.
Es war dunkel und still in dem Zimmer und er konnte neben Kentins auch den Atem von Nathaniel hören, der auf einer Liege ihm gegenüber lag. Er drehte sich etwas und versuchte, Kazuya in seinem Sessel auszumachen.
Doch der war nicht da!
Mit einem Satz saß der Schwarzhaarige aufrecht und sah sich hektisch um. Kentin brummte und fuhr sich verpeilt durch die Haare, weil Leo so zitterte.
»Was hast du denn?«, flüsterte er.
Der Schwarzhaarige sprang auf, eilte zur Tür und schlug auf den Lichtschalter. Das schummrige Licht flackerte und weckte schließlich auch Nathaniel, der blaß und müde aussah.
»Was isn los?«, nuschelte er und rieb sich das Gesicht.
»Kazuya!! Kazuya ist nicht da!!«, keuchte Leo und sah sich panisch im Zimmer um. Kentin richtete sich auf und ordnete sich die Haare.
»Vielleicht ist er nur Pinkeln gegangen?«
Leo bekam beinahe einen hysterischen Anfall und rang nach Luft.
»Und was wenn nicht?« Er hyperventilierte und Kentin packte ihn am Arm. Sanft schüttelte er den Schwarzhaarigen, doch der konnte sich in seiner Angst nicht beruhigen. Schließlich kassierte er eine Ohrfeige von dem jungen Soldaten.
»Ganz ruhig! Hör mir zu. Es geht ihm sicher gut. Wir gehen ihn suchen, ok?«
Leo presste seine Nase an Kentins Brust und atmete tief durch. Nathaniel stand auf und entknitterte seine Kleidung.
»Ich glaube auch, er ist nur auf der Toilette. Ich glaube, hier war irgendwo eine...«
Alle Köpfe gingen erschrocken rum, als die Tür geöffnet wurde und Leo schrie auf, als Kazuyas weinroter Schopf auftauchte. Ehe er etwas sagen konnte, hing Leo wie ein Sack an ihm und drückte ihm fast die Luft ab.
»Wa- LEO! Ich kann nicht atmen!«
»Wo warst  du??«
Kazuya machte sich sanft von seinem Freund los und lächelte.
»Ich konnte nicht mehr schlafen und wollte mir die Beine vertreten. Und ich habe eine Bibliothek gefunden. Die Eigentümer haben dieses Kind, dessen Zimmer wir oben gefunden haben, scheinbar vor der Öffentlichkeit versteckt. In der offiziellen Chronik steht drin, dass sie kinderlos waren. Und jemand hat offenbar noch eine Rechnung offen mit der Familie. Alle Fotos, die ich gefunden habe, waren zerkratzt.«
Die jungen Männer sahen sich an.
»Dieser Irre ist es, der uns jetzt hier festhält... und das macht mich krank.« Kentin trabte an den noch immer gedeckten Tisch, dessen Terrinen mittlerweile kalt waren, aber das Brot in den verdeckten Körben war noch weich. Und Tee konnte man auch kalt trinken.
»Kommt alle mal runter und esst etwas. Wir müssen einen Weg hier raus finden. Ich hab die Schnauze voll von diesem stinkenden Schuppen hier.«
Leo und Kazuya lösten ihre viel zu feste Umarmung und setzten sich an den Tisch. Laut einer alten Uhr auf einer Anrichte war es noch nicht mal 7 Uhr.
»Ich habe echt scheiße geträumt. Voll der Horror.«, murmelte Nathaniel und zupfte etwas Teig aus seinem Brotstück.
Die anderen nickten. Sie hatten alle nicht sehr erholsam geschlafen. Dass sie überhaupt ein Auge zubekommen haben angesichts der Situation, war ein Wunder.
»Vielleicht... vielleicht müssen wir uns damit abfinden, dass wir hier nicht mehr rauskommen...« Leo starrte auf seine verkrampften Hände und sein Gesicht sah grau und müde aus. Seine amethystfarbenen Augen hatten trotz der schimmernden Kontaktlinsen ihren Glanz verloren.
Kentin legte ihm seinen Arm um die schmalen Schultern und Kazuya griff nach seiner Hand.
»Heul nicht, Leo. Wir bringen deinen Arsch schon wieder nach Hause.« Der Rothaarige drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Der Schwarzhaarige schniefte und nahm die Tasse mit ziemlich starkem Tee entgegen, der die ganze Nacht gezogen hatte.
Nathaniel betrachtete die jungen Männer und verzog den Mund zu einem feinen Lächeln.
»Ich glaube auch, dass wir es schaffen können. Wenn wir nur vorsichtig sind.«
Alle aßen etwas und stärkten sich mit Tee.
Die ersten Sonnenstrahlen krabbelten durch die Ritzen des vernagelten Fensters, als Leo aufstand.
»Los, kommt. Ich will hier nicht länger herumsitzen. Lasst uns hier einen Weg raus finden.«
Kentin und Kazuya warfen ihre Brotreste in den Korb und Nathaniel leerte seine Tasse, bevor sie aufstanden.
»Vielleicht sollten wir wieder nach oben gehen. Dieses Haus hat doch sicher einen Dachboden...«
Kentin sah sich auf dem Flur um und schaltete das Licht ein.
»Ok, dann gehen wir nach oben, oder?« Alle nickten und machten sich daran, den nächsten Treppenaufgang aufzusuchen. Nach den ersten Stufen begann Nathaniel zu husten.
»Entschuldigt...«, versuchte er, den Anfall niederzukämpfen, was ihm aber nicht gelang. Im Gegenteil wurde das Husten immer drängender. Er blieb in dem schmalen Treppenaufgang stehen und lehnte sich an die Wand. Er bekam schlecht Luft und die anderen blickten sich geschockt an.
Leo begann zu zittern und griff nach Nathaniels Hand.
»Beruhige dich, dann geht es schneller weg.«
Nathaniel würgte und röchelte und schüttelte den Kopf. Sein Kopf war rot und seine Augen tränten. Seine Augen sahen panisch in die Gesichter der anderen Männer, die verzweifelt dabei zusahen, wie der blonde Student langsam erstickte.
»Verdammt... ich dachte, das Essen war sicher?«, murmelte Leo mit erstickter Stimme und versuchte, Nathaniel vor einem Sturz die Treppe runter zu bewahren.
Er brach auf den Knien zusammen, als plötzlich Blut aus seinem Mundwinkel sickerte. Seine Augen wurden blass und er fiel einfach um. Direkt in Leos Arme, dem das Blut auf die Brust tropfte.
Der versteifte sich und die Tränen kullerten über seine Wangen.
»Bitte... nehmt ihn weg von mir...«, hauchte er und zog die Nase hoch.
Kentin und Kazuya packten den leblosen Nathaniel unter den Achseln und an den Knöcheln und legten ihn am Fuß der Treppe nieder. Kentin fühlte seinen Puls und schüttelte den Kopf.
»Wie kann das gehen? Wir haben alle dasselbe gegessen und wir leben alle noch! Was soll das? Warum... ich könnte kotzen!« Kazuya legte Nathaniels Hände auf der Brust zusammen.
»Ich weiß nicht, wie der Mod das macht, dass er sein Gift so perfide einsetzt. Denn es kann nur Gift gewesen sein...« Kentin betrachtete den blonden Jungen, dessen Augen geschlossen waren und die Augenlider waren bläulich verfärbt.
»Lass uns gehen.« Kazuya ging wieder auf die Stufen und zog seinen weinenden besten Freund hoch.
»Komm, Leo.« Der Schwarzhaarige schniefte und stolperte dem Rothaarigen in die Arme.
Alle erstarrten, als die knisternde, sonderbar rauschende Melodie durch das Gemäuer schallte. Eiseskälte kroch in die Glieder der jungen Männer und Leo presste sich noch enger an Kazuyas warme Brust.

»Und da waren es nur noch drei...«, ertönte die unheimliche verzerrte Stimme ihres Peinigers in dem von der schaurigen Musik erfüllten Gang. Er lachte und Kentin stellten sich die Nackenhaare hoch. Er trat zu Leo und Kazuya und griff nach der zitternden Hand des Schwarzhaarigen.

»Zurück bleiben die drei, die eine sonderbare Beziehung miteinander führen. Mein lieber Leo... wenn du wählen müsstest zwischen deiner neuen Liebe und deinem besten Freund – wie würdest du dich im Ernstfall wohl entscheiden?! Eine interessante Vorstellung.«

Leo schluchzte auf und vergrub sein Gesicht, um es vor der körperlosen Stimme zu verbergen. Als hätte er sich diese Frage nicht schon dutzende Male selbst gestellt, musste diese gräßliche Stimme diese Angst nun laut aussprechen?
Kentin knurrte und Kazuya presste die Lippen zusammen.
»Kranker Bastard!«, nuschelte der Rothaarige.

»Oh, mein Lieber, haltet von mir, was ihr wollt, aber noch sitze ich am längeren Hebel. Noch seid ihr nicht einmal annähernd in meine Nähe gekommen. Und ist euch nie in den Sinn gekommen, dass ich gar nicht vorhabe, auch nur einen von euch gehen zu lassen? Es bringt euch nichts, die Geheimnisse dieses Hauses zu ergründen. Denn es wird euer aller Grab werden. Es hängt dabei natürlich von euch ab, wie ihr euer Ende findet. Ist es still und friedlich wie das des eben entschwebten Studenten oder eher... elektrisierend wie das des jungen Lehrers? Nun ja. Es liegt an euch. Ich lasse euch sodenn einstweilen erst einmal weitersuchen. Vielleicht seid ihr alle noch am Leben, wenn ihr auf mich trefft. Aber – ich schätze eher nicht.«

Wieder ertönte ein sonderbares Knacken und die Musik verklang zusammen mit der Stimme des geheimnisvollen Mods.
Die jungen Männer entspannten sich ein Stück weit und stiegen vorsichtig die Stufen hoch.
»Können wir ihn einfach da unten liegen lassen?«
Kentin nickte und zog den total erledigten Schwarzhaarigen einfach hinter sich her.
»Dieser kranke Typ ist doch... mir fehlen die Worte. Aber ich bin besorgt.«
Kazuya und Leo blickten den Soldaten fragend an.
»Meint ihr, er hat einfach so gefragt, wie sich Leo entscheiden würde? Ich habe ein schlechtes Gefühl, dass er uns noch zeigen wird, was er meinte.«
Leo kniff die Lippen zusammen.
»Ich will mich nicht entscheiden. Ich will euch beide und ich will hier weg.« Der Schwarzhaarige war aschfahl und von dem bisschen Erholung durch die paar Stunden Schlaf war nichts mehr zu spüren.
Sie waren wieder in einem schummrig beleuchteten Gang, dessen Wandgemälde Düsternis und Beklemmung ausdrückten.
»Hier stinkt es nach Öl.«, murmelte Leo und sie sahen sich aufmerksam um. Kentin fuhr mit der Hand vorsichtig über die Wände.
»Was machst du da?« Kazuya betrachtete Kentins Tuns skeptisch.
»Die Kellertür war in der Wand versteckt. Was, wenn die Tür zum Dachboden auch versteckt ist?«
Leo hielt Kentin am Arm fest.
»Können wir Rast machen? Ich... ich habe echt Angst und möchte eine Pause machen.«
Die jungen Männer ließen sich, wo sie waren, auf den uralten Teppich sinken und atmeten tief durch.
»Innerhalb von weniger als 24 Stunden hat er 4 von uns erledigt. Wenn das so weitergeht, sind wir heute Nacht alle tot!« Leos Stimme zitterte und er lehnte sich an den, der ihm am nächsten saß – Kentin. Kazuya saß ihnen gegenüber und lächelte milde.
Leo sah niedlich aus, wie er so an dem Soldaten lehnte. Und wirklich verliebt. Schlimm nur, dass er das nicht genießen konnte, weil die Angst zu groß war. Er wäre seinem Freund nicht böse, wenn er sich für Kentin entscheiden würde – aber er wollte natürlich, dass es gar nicht erst dazu kam.
Die drei saßen vielleicht eine Stunde da und sinnerten über die Bedeutung der gruseligen Bilder, die die Wände zierten, als Leo plötzlich erschauderte.
»Was hast du?«
»Es zieht...«, murmelte der Schwarzhaarige und erhob sich. Mit zusammengezogenen Brauen schlich er an der Wand entlang und versuchte, herauszufinden, wo der Ursprung des kalten Luftzuges lag. Seine schmale Hand strich über die alte Seidentapete.
»Hier... Kentin, kommst du mal... es kommt von hier.«
Kentin stemmte sich gegen den kleinen Schrank und legte einen kleinen Türgriff frei.
»Perfekt in die Wand eingelassen. Respekt.«
Kazuya stellte sich dazu, als Kentin vorsichtig den Griff runterdrückte und etwas an der Türe zog.
»Helft mir mal.« Leo und Kazuya zogen an der leicht angelehnten Tür und mit einem Knarzen öffnete sich der Durchgang zu einem Treppenaufgang. Der Geruch nach Öl wurde stärker und es war dunkel.
»Ist das jetzt ein Geheimgang oder tatsächlich der Weg auf den Dachboden?« Kazuya kratzte sich am Kinn.
»Ich habe keinen offenen Treppenaufgang gefunden und ihr doch auch nicht... wenn wir hier weiterrennen, kommen wir irgendwann wieder bei unseren Zimmer an, denke ich. Also gehen wir einfach hier hoch und gucken mal. Der Wahnsinnige wird sich kaum in einem frei zugänglichen Raum verkrochen haben.«
Leo und Kazuya nickten bei Kentins Worten und folgten dem Soldaten in den schmalen Aufgang.
Der Schwarzhaarige klammerte sich an Kazuya und würgte leicht ob des penetranten Ölgeruches.
»Bah, was ist hier, dass es so stinkt?«
»Keine Ahnung, aber pass auf, wo du hintrittst.« Kazuya nahm seine Hand.
Die Treppe endete und den jungen Männern öffnete es die Augen.

Spieluhr [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt