Kazuya schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch und sah sich orientierungslos um. Es dauerte eine Sekunde, bis ihm wieder einfiel, dass er sich mit Kentin, Leo und Nathaniel in einem kleinen Esszimmer eingeschlossen hatte, um ein paar Stunden Ruhe vor dem Horror zu haben. Die Kerzen auf dem gedeckten Tisch waren erloschen und nur das blasse silberne Licht des Mondes drang mit einem schmalen Streifen in das Zimmer.
Sie saßen noch immer in diesem unsäglichen Haus fest und wurden noch immer von einem Verrückten gefangengehalten, der sie alle umbringen wollte. Sein Herz zog sich zusammen.
Noch war Leo nichts geschehen, aber er stand dem Punkt seiner endgültigen Erschöpfung schon ziemlich nahe. Leo war nicht sehr widerstandsfähig.
Und er, Kazuya, nebenbei gesagt auch nicht.
Er wandte den Blick zu dem Sofa, auf dem Leo und Kentin zusammen schliefen. Im matten Licht des Mondes war es ein friedliches Bild. Eines, was nicht erahnen ließ, was hier geschah.
Er streckte seine schmerzenden Glieder und wandte den Kopf, wodurch er nach draußen sehen konnte. Diese Schönheit einer mondklaren Nacht stand so extrem im Widerspruch zu allem, was die letzten Stunden mit sich gebracht hatten, dass es grotesk war.
Er wollte nur noch nach Hause.
Mit einem stummen Seufzen erhob er sich und drückte den Rücken durch. Wenn er nicht liegen konnte, würde er niemals weiterschlafen können, obwohl sein Körper ihn vor Müdigkeit anschrie. So leise er konnte, öffnete er die Tür und trat in den Flur, in der Hand einen Kerzenständer und ein paar Streichhölzer, die er auf dem Tisch liegend gefunden hatte. Er entzündete den Docht und sah sich um.
Er wusste nicht, wohin er wollte und warum er eigentlich das doch sichere Zimmer verlassen hatte, aber es hielt ihn nichts in dem Raum. Leo war bei Kentin in Sicherheit. Mehr zählte nicht.
Einer Eingebung folgend, ging er den Gang entlang und sah sich alles genau an. Auch hier gab es unzählige leere Zimmer mit vernagelten Fenstern, Staub, Moder und ganzen Kolonien von Spinnen.
Das Geheimnis dieses Hauses interessierte ihn und als er in einem großen Raum voller Regale stand, bemerkte er zu seiner Überraschung und Verzückung, dass es sich um eine Bibliothek handelte.
Er schaltete das schummrige Licht an und löschte die Kerzen. Neugierig strich er mit den Fingern über die Buchrücken, die alle fürchterlich alt aussahen. Diese Bücher mussten ein Vermögen wert sein.
Er stieß auf eines, das auf einem Stehpult lag. Es erinnerte ihn an diese großen Familienchroniken, wie sie alte Anwesen besaßen und vorsichtig schlug er das staubige Buch auf.
Auf der ersten Seite war kunstvoll ein detaillierter Stammbaum einer ziemlich angesehenen Familie gemalt. Oben an der Krone des Baumes war in Schnörkelschrift der Name Grantaine gemalt worden.
Kazuya strich mit den Fingern über die Seite. Der Name klang nach französischem Adel. Kein Wunder, dass die ein solches Haus besaßen und es sich leisten konnten, es verkommen zu lassen. Seine Augen wanderten über die schnörkeligen Namen, doch er bemerkte, dass einer von ihnen scheinbar herausgebrannt wurde. Dort, wo der Name sein sollte, prangte ein Brandloch, wie von einer Zigarette. Nur das Datum war noch zu erkennen. Die Person müsste mittlerweile um die 22 sein.
Na super, das traf auf fast jeden hier in diesem Haus zu, von dem Fahrer vielleicht einmal abgesehen.
Er blätterte weiter und erfuhr einige Informationen. Es sah aus, als wäre diese Chronik all die Jahre von einem Schreiber weitergeführt worden, denn die Schrift in dem Buch war nicht gedruckt, sondern mit Tinte geschrieben. Die Einträge waren etwa 20 Jahre alt.
'Erbaut im Jahr 1755', las Kazuya, 'erfreute sich die Villa Rosenhain schon bald größter Beliebtheit bei den geschätzten Gästen der hochverehrten Familie Grantaine, die ihr Anwesen ob seiner Schönheit der Öffentlichkeit für Besucher zugänglich machte. Die Eheleute Grantaine, die gegenwärtig Eigentümer sind und die kinderlos verblieben waren, weilen ihrerseits derzeitig eher selten länger auf dem Gut.'
Kazuya zog die Brauen kraus.
Kinderlos? Aber wer war dann das Kind aus dem Zimmer im ersten Stock? Hatte in den Aufzeichnungen des Arztes nicht gestanden, dass die Eltern die Kosten für eine Behandlung scheuten? Oder... vielleicht hatten sie geheimgehalten, dass sie einen Stammhalter gezeugt hatten, weil dieses Kind geisteskrank oder zumindest damals schon schwer auffällig war?!
Kazuya schlug das Buch zu und sah sich weiter um. In einem Glasschrank mit mehreren Regalbrettern entdeckte er unzählige Bilder in verschiedenen Grau- und Sepiatönen. Sie zeigten offenbar viele Mitglieder der Grantaine-Familie, doch etwas an den Bildern jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
Jemand hatte jedem einzelnen Bild feinsäuberlich die Augenhöhlen ausgekratzt und ein Bild entdeckte er, das machte einen recht modernen Eindruck. Eine leicht vergilbte Farbfotografie. Auch hier hatte man den Erwachsenen die Augen ausgekratzt. Doch auf diesem Bild befand sich ebenfalls ein Kind. Diesem hatte man nicht nur die Augen ausgekratzt. Nein, es hatte überhaupt kein Gesicht mehr.
Kazuya bekam Gänsehaut und stellte den Rahmen zurück.
Wer auch immer hier sein Unwesen trieb, er hasste die Familie und setzte scheinbar alles daran, die Existenz dieses Kindes zu verschleiern. Er ließ seinen Blick schweifen und traf auf ein altes Ölgemälde. Ein schönes Werk, das grotesk durch schwarze Farbe entstellt wurde.
Es jagte ihm Angst ein und er griff wieder nach dem Kerzenständer, um die Bibliothek hinter sich zu lassen.
Im Kerzenschein trabte er zu dem kleinen Zimmer zurück, blind für alles, was sich um ihn herum abspielte. Er vermied es, zu sehr darüber nachzudenken, was hier schief lief, denn sonst würde er das ganze Haus zusammenbrüllen.
Wäre er doch nur nie hier her gekommen! Hätte er sich doch nur Leo gekrallt und wäre mit ihm nach Paris gefahren für das Wochenende. Oder nach Venedig. Nur nicht in dieses abgelegene Kaff und in ein uraltes, gruseliges Herrenhaus, in dem ein shizophrener Mörder auf sie lauerte.
Er wollte gerade nach der Klinke greifen, als er einen Tumult in dem Zimmer hörte.
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Spieluhr [AS]
Fanfiction8 junge Leute verbringen täglich in einem Online-Chat ihre Zeit miteinander. Als der Moderator des Chats beschließt, ein persönliches Treffen zu veranstalten, sagen alle freudig zu. Doch niemand ahnt, dass einer von ihnen ein grausames Ziel hat. Das...