Kentin und Leo starrten fassungslos auf den blonden jungen Mann, der mit einem charmanten Gastgeberlächeln auf sie zukam.
»Aber... wir haben dich sterben gesehen! Das ist noch keine 5 Stunden her!«, krächzte Leo geschockt.
Nathaniel lächelte ihn liebenswert an.
»Genau das war es, mein lieber Leo. Ihr habt es gesehen. Aber leider wusstet ihr nicht, was ihr da seht. Denn es gehörte alles zu meinem Plan. Nie von dem Gift gehört, mit dem Julia ihren Tod vortäuscht, um Romeo zu sich zu rufen? Wie amüsant, dass das in der Realität wirklich funktioniert.«
Leo und Kentin blickten ihr Gegenüber noch immer ungläubig an.
»Du bist der Mod? Du warst es die ganze Zeit?«
Nathaniel nickte.
»Und warum das Ganze?«, fauchte Kentin.
»Ja, warum das Ganze. Das ist eine gute Frage. Vielleicht, weil ich Zeit meines Lebens gehalten wurde wie Vieh. Ich war einsam. Meine Intension, diese Einsamkeit mit einigen virtuellen Freunden zu vertreiben, brachte mich zu diesem Chat. Ich lernte euch nach und nach kennen. Ich amüsierte mich. Doch irgendwann merkte ich, dass ich euch alle hasste.« Nathaniels Blick aus seinen goldenen Augen bekam ein unstetiges Flackern.
»Und warum das?«
»Ihr wart so... frei. So frei, wie es mich mein Vater nie hat sein lassen. Ich konnte nicht zulassen, dass ihr dieses Leben leben durftet, während man in mir stets den Wahnsinnigen gesehen hat.«
Kentin erinnerte sich an die Krankenakte und die starken Medikamente. Die Handfesseln am Bett.
»Also warst du es wirklich? Dieses Kind...«
Nathaniel lächelte noch immer sein liebenswertes Lächeln. Nichts verriet, dass er dem Wahnsinn verfallen war. Selbst das Flackern in den Augen war wieder verschwunden.
»Ich war 6, als ein Arzt bei mir eine manisch-depressive Schizophrenie diagnostizierte. Es war natürlich Unsinn. Ein Kind in dem Alter hat keine Schizophrenie. Ich hatte lediglich zu viel Fantasie. Meine Mutter war eine Hure. Eine von denen, die reiche Herren sich für Empfänge mieteten. Sie wurde schwanger, irgendwann drogenabhängig und sie starb. Und ich kam zu meinem Vater.«
Nathaniels Stimme klang fern, als würde er nur etwas wiederholen, das er vor langer Zeit schon einmal jemandem erzählt hatte.
»Mit mir kamen meine Krankenakten. Für den Ruf meines Vaters war es undenkbar, ein psychisch auffälliges Kind zu haben. Als wäre die Tatsache, dass es ein Bastard war, nicht schon skandalös genug. Man richtete mir hier ein Zimmer und stellte diesen Stümper ein, der nichts konnte, als mich mit Pferdenarkotika zu vergiften. Ich tötete ihn. Niemand hat mir das jemals nachgewiesen, aber er vertrug seine Medizin jedenfalls schlechter als ich. Er fiel einfach tot um. Doch meine Eltern – ich will sie der Einfachheit halber einfach so nennen, versteckten mich nach wie vor. Mit 12 stopfte ich den Hund meiner Stiefmutter in den Kaminschacht und entzündete daraufhin ein Feuer. Meine Eltern ließen mich in eine Anstalt einweisen. Nie wollte jemand etwas von mir wissen. Ich blieb dort, bis ich 19 war. Ab da hatte meine Familie keine Handhabe mehr über mich. Ich hatte mich im Griff, ehrlich. Doch dann kam die Langeweile, ich eröffnete den Chat und traf auf euch. Und auf eure unbedeutenden Lebensgeschichten.«
Nathaniel lachte einen Moment.
»Ihr wart so langweilig, dass es mir eigentlich nichts bedeuten sollte, euch auszulöschen. Aber ich hasste es, das ihr in eurer Bedeutungslosigkeit so viel Glück empfunden habt. Das ihr Freunde hattet, eine normale Kindheit, Spaß, Liebe.«
Der Blick des Blonden lag eine Sekunde auf Kentins und Leos Händen, die sich noch immer festhielten.
»Das konnte ich nicht zulassen. Der Mensch sollte nicht einfach so glücklich sein, ohne etwas dafür zu leisten. Mein Vater bleute mir diesen Grundsatz ein. Glück musste man sich verdienen und das habt ihr nicht!«
Kentin biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Du bist ja wahnsinnig.«
»Aber nein, Kentin. Das bin ich nicht. Ich war es, als die Medikamente meinen Geist benebelten. Jetzt bin ich klar wie ein Bergsee.«
»Bestimmt. Und deswegen tötest du Unschuldige mit Gift und Strom und...?«
Nathaniel wandte den Blick ab und lachte auf.
»Das mit dem Brunnen war nicht meine Schuld. Obwohl es sehr effektvoll war. Aber dabei handelte es sich tatsächlich um einen tragischen Unfall. Ich hatte mir so viele Sachen ausgedacht für euch, aber ihr habt euch die harmlosesten Sachen ausgesucht. Es musste niemand wirklich lange leiden und es war unblutiger, als ich gehofft hatte.« Nathaniel sah zu Leo rüber und lächelte milde. »Naja, bis auf deinen Freund. Das war... interessant. Sag mir, Kentin. Wie fühlt es sich an, jemanden mit den eigenen Händen zu töten?«
Kentin ballte die Hände zu Fäusten.
»Frag dich selber, du Arsch.«
»Hm... das kann ich nicht. Ich habe niemanden getötet. Ich habe lediglich verhindert, dass es geschieht und Fallen ausgelegt. Kein Einziger in diesem Haus starb direkt durch meine Hand. Ich bin unbefleckt.« Nathaniel lachte herzhaft.
Kentin wollte auf den Blonden zustürmen, doch Leo hielt ihn fest.
»Nicht. Er provoziert dich doch nur.«
Nathaniel beruhigte sich und strich sich den Pony aus dem Gesicht. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und man konnte die unzähligen Narben auf den Unterarmen erkennen. Narben, hervorgerufen durch unzählige Infusionen, Spritzen und andere scharfe Gegenstände. Leo glaubte, auch Schnittwunden an den Handgelenken erkennen zu können.
»Gut erkannt, Leo. Denn es ist noch nicht vorbei.« Er lächelte und seine goldenen Augen funkelten erneut. Kentin machte einen Schritt auf den blonden Mann zu und ballte die Hände noch fester zu Fäusten.
»Nein, du Bastard! Als du dieses Spiel hier angefangen hast, hieß es, wir müssten dich finden und dann wäre es vorbei. Halt dein Versprechen, du kranker Freak oder ich zwinge dich dazu.«
Nathaniel wedelte mit dem Zeigefinger herum.
»Nein, nein... so läuft das nicht. Die Regel war, das Einer hier rauskommt. Ihr seid zu zweit. Und das ist nicht regelkonform. Entschuldigt, aber ich arbeite gründlich meine Pläne ab.«
Kentin knurrte. »Und was soll das jetzt im Klartext heißen?«
Nathaniel machte ein paar Schritte und deutete den beiden jungen Männern an, ihm zu folgen. Leo griff wieder nach Kentins Hand und sie gingen ihm nach. Hinter der weißen Leinwand saß der junge Mann in einem imposanten Sessel und grinste süffisant.
»Ich habe ein letztes Spiel vorbereitet. Und ich habe mir überlegt... zur Feier eurer jungen Liebe – auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, was ein Mann an einem anderen Mann findet – gebe ich euch die Chance, hier vielleicht zusammen rauszukommen.«
Leo blickte sich um und stellte fest, dass es der selbe Sessel war, der auch in der ersten Videobotschaft zu sehen war.
»Verrate mir was. Wie hast du das gemacht? Diese Videobotschaft und die Kommentare über Lautsprecher. Wie ging das, obwohl du die ganze Zeit bei uns warst?«
Nathaniel machte ein überraschtes Gesicht und lachte schließlich. Es klang wie das Lachen eines Jungen, aber der Mann hatte kein bisschen Unschuld in seinem Gesicht.
»Das ist dir aufgefallen? Nun, wie ging das, ja. Berechtigte Frage. Sagen wir, ich war schon immer gut im Manipulieren und mit einem treuen Handlanger funktioniert alles.« Der Blonde neigte den Kopf ein wenig und Kentin und Leo blickten in die angedeutete Richtung. Hinter einem Board, auf dem technischer Firlefanz stand, lugten ein paar Herrenschuhe hervor.
»Der Fahrer? Hast du ihn umgebracht?«
»Nein. Nicht direkt. Er hat lediglich einen Drink von mir angenommen.«
Kentin und Leo blickten sich geschockt an.
»Ihr seht, ich habe niemals jemandem ein Messer in den Rücken gerammt oder gar jemandem das Genick gebrochen.« Nathaniel hatte ein grausames Lächeln im Gesicht und betrachtete die Reaktion von Kentin ganz genau. Der biss die Zähne zusammen und ließ seinen Kiefer mahlen.
»Das alles wäre nicht nötig gewesen, wenn du uns nicht in deine kranke Fantasie hinein gezogen hättest. Du hast Kazuya auf dem Gewissen. Genau wie alle anderen.«
Nathaniel betrachtete seine schlanken Finger und lächelte mit gekräuselten Lippen.
»Wenn ihr das sagt. Ich sehe das so, dass ihr alle freiwillig gekommen seid. Kommen wir zu meinem Vorschlag.« Er stand auf und deutete auf einen kleinen Beistelltisch. Auf diesem standen mehrere Gläser mit einer goldbraunen Flüssigkeit.
»Ich würde euch gern einen Drink anbieten. Ihr werdet euch sicherlich denken können, dass es einen Haken gibt. Genau. In einem der Gläser ist dasselbe drin, dass meinen treuen Helfer niedergestreckt hat. Und da es mich nach Fairness drängt, habe ich keine Ahnung, in welchem Gefäß etwas drin ist. Sollte es mich erwischen, seid ihr beide entlassen. Erwischt es einen von euch, trinkt der Letzte nochmal mit mir. Mal sehen, wem Fortuna gesonnen ist.«
Kentin schluckte und funkelte den Blonden an. Leo krallte seine Finger in Kentins Hand.
»Ich schätze, wir haben keine andere Wahl?«
Nathaniel lächelte ein schiefes Lächeln und seine goldenen Augen funkelten irr.
»Nein... oder willst du mir mit dem kleinen Messerchen die Kehle aufgeschneiden?«
»Ich hätte nicht übel Lust dazu, ja«, knurrte der Soldat und bekam wieder ein spöttisches Lachen des Blonden zu hören.
»Bist wohl auf den Geschmack gekommen, hm?«
»Mach deinen Zug, du Scheißkerl und halt die Backen.«
Nathaniels Blick verdüsterte sich gereizt und er schürzte die Lippen. Scheinbar verließ ihn allmählich die Geduld angesichts der ständigen Beleidigungen.
»Also bitte. Wer möchte anfangen?«, brummelte der Blonde nun sichtlich übellaunig. Kentin trat einen Schritt vor und schob Leo etwas hinter sich. Nathaniel konnte sagen, was er wollte, aber er war und blieb ein Verrückter. Seine Stimmungsschwankungen waren deutlich spürbar. Und Kentin hatte dem toten Kazuya versprochen, Leo zu beschützen. Wenn er mit seinem Einsatz schaffte, dass Nathaniel den vergifteten Becher erwischte, hatte er eine Chance. Er glaubte dem Blonden allerdings nicht, dass er nicht wusste, welches Glas vergiftet war.
»Ich mache es. Fangen wir an. Doch ich möchte, das die Gläser gemischt werden. Dreh das Tablett, denn ich glaube dir nicht, dass du nicht Bescheid weißt!«
Nathaniel machte eine Geste, das Kentin seinen Willen haben wollte und drehte das polierte Silbertablett mehrere Runden im Kreis.
Leo hielt Kentins Arm fest und blickte ihm ängstlich ins Gesicht.
»Pass auf dich auf.« Seine Stimme zitterte. Der Soldat nickte und griff nach einem Glas. Nathaniel sah leicht verunsichert aus und seine Hand zitterte etwas, als auch er nach einem Gefäß griff.
»Wohl bekomm's, Herr Fürst!«, brummte Kentin und kippte seinen Drink runter. Nathaniel tat es ihm gleich und verzog das Gesicht angesichts des scharfen Alkohols.
Leo zitterte am ganzen Körper und sein Blick ging zwischen Kentin und Nathaniel hin und her. Sein Gesicht wurde blass, als Kentin zu husten anfing.
»Nein... Kentin?«
Der würgte den Husten nieder und lächelte leicht. »Keine Sorge. Mir ist nur was in den Hals gekommen beim Schlucken.«
Einige Sekunden standen sie sich stumm gegenüber und beäugten einander.
»Tja... das war wohl eine Niete für uns beide. Nochmal?« Nathaniel legte seine Finger an das Tablett und wollte es nochmal drehen, als er plötzlich inne hielt.
»Oh...«, machte er nur leise und sank wie eine Puppe zusammen, aus der man die Luft herausgelassen hatte. Beinahe ohne ein Geräusch zu verursachen, landete er auf dem alten Teppich und seine goldenen Augen blickten erschrocken an die Decke.
Kentin und Leo blickten sich an und knieten sich neben dem jungen Mann auf den Boden.
Nathaniels Glieder zuckten unkontrolliert und sein Gesicht verzog sich. Schaum bildete sich in seinen Mundwinkeln und er kniff die Augen zusammen, als hätte er schlimme Schmerzen. Irgendwann blieb er einfach ruhig liegen. Sein Blick lagen auf den Männern, die ihn unverwandt ansahen. Seine goldenen Augen schienen um Vergebung zu bitten und Tränen sammelten sich in den Augenwinkeln.
»Endlich... endlich hat es ein Ende...«, murmelte er fast unverständlich und sein Körper entspannte sich. Mit einem Hauch brach sein Atem ab und das Licht in seinen Augen erlosch – diesmal endgültig.
Leo wagte es zum ersten Mal, seit Kentin aus dem Glas getrunken hatte, durchzuatmen. Kentin schloss die Augen und presste die Lippen zusammen.
Ja, Nathaniel hatte sich und seinen Wahnsinn überstanden. Der Soldat schloss dem Blonden die Augenlider und durchsuchte dann seine Taschen.
»Ist... ist es jetzt vorbei?«, fragte Leo mit zitternder Stimme. Kentin sah dem Jungen ins Gesicht und lächelte. Mit einer flüssigen Bewegung zog er Leo an seine Brust und presste ihn an sich.
»Ich hoffe es. Wenn wir das Haus verlassen, müssen wir aufpassen. Es ist immer noch nicht sicher hier.«
Kentin gab den anderen wieder frei und suchte in Nathaniels Taschen weiter nach einem Schlüssel oder etwas anderem. Schließlich wurde er fündig und mit einem leisen Klirren zog er einen kleinen Schlüsselbund heraus.
»Das hier ist sicher der Hausschlüssel. Und das ist ein Autoschlüssel. Machen wir, dass wir hier wegkommen und lass uns die Polizei rufen. Wir können die anderen nicht hier lassen.«
Leo nickte und griff nach Kentins Hand.
»Lass uns hier verschwinden.«
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Spieluhr [AS]
Fanfiction8 junge Leute verbringen täglich in einem Online-Chat ihre Zeit miteinander. Als der Moderator des Chats beschließt, ein persönliches Treffen zu veranstalten, sagen alle freudig zu. Doch niemand ahnt, dass einer von ihnen ein grausames Ziel hat. Das...