Epilog

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Hach, was für ein wundervoller Morgen! Die Sonne scheint und ich habe über zehn Stunden tief und fest geschlafen. Mein Körper fühlt sich zwar immer noch fremd, aber zumindest ausgeruht an. Bedacht nehme ich eine Tasse aus dem Schrank über der Spüle und öffne eine Dose Kaffeesahne. Schon beim Anblick des weißen Goldes, das aus der kleinen Öffnung fließt, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Zufrieden nehme ich einen großen Schluck und genieße das seidig-cremige Gefühl der Kondensmilch auf meiner Zunge. Ich schließe die Augen, und wieder einmal taucht die Szene auf, die vor vier Tagen mein Herz auf eine Weise berührt hat, wie ich es nach all den Jahrhunderten nicht mehr für möglich gehalten hatte.

Mit einem lauten Heulen war Michael auf seine Mutter zugestürzt, die ihm mit tränenüberströmtem Gesicht entgegengesprintet ist. Himmel, hätte sie ihn noch ein bisschen fester gedrückt, wäre er Mus!

Der Vater war trotz seines geschienten Beins nur wenig langsamer als seine Frau und hat Nadja in die Arme geschlossen. Mit lautem Schluchzen hat sie sich an ihn gedrückt. Wasser ist ihm aus Augen und Nase geflossen und die überwältigende Erleichterung seine Kinder lebend wieder zu sehen, hat sich in jeder Regung seines ausdrucksstarken Gesichtes abgezeichnet. Um es kurz zu machen, es blieb kein Gesicht trocken. Weder die der Familie noch der Rettungskräfte oder Suchtrupps.

Ich habe das Schauspiel von dem Hang oberhalb des Sammelplatzes beobachtet. Den Jubel, die Freude und das Augenwischen. Wie ist es möglich, dass ich bei der Erinnerung glücklich bin und mich gleichzeitig unendlich einsam fühle.

Vielleicht ist ein Teil von mir traurig, dass die Kinder sich nicht an mich erinnern. Aber es wäre über alle Maße egoistisch gewesen, sie aus diesem Grund mit dem Trauma gehen zu lassen. Zum Glück lässt sich das Vergessenspulver sehr granular, fast bis auf die Stunde genau dosieren. So habe ich die letzten Tage komplett aus ihrem Gedächtnis getilgt. Und nicht nur die Erinnerungen, sondern auch die seelischen Folgen. Vielleicht werden sie in Zukunft bei Licht schlafen und Karnevalsumzüge meiden, aber es sollte ihnen möglich sein ein unbeschwertes Leben zu führen.

Leben. Das bringt mich wieder zu der Frage, was ich mit meinem anstellen soll. Als knapp dreihundertjährige Frau im Körper einer Vierzehnjährigen, die den Großteil ihrer Zeit als Katze verbracht hat, sind die Optionen zahlreich!

Ich wende mich dem Laptop zu, an dem ich die letzten Tage regelmäßig geübt habe. Wenn ich in dieser Zeit bestehen will, ist es unabdingbar, dass ich mich mit Technologie beschäftige. Zum Glück habe ich Sabrina regelmäßig über die Schulter geschaut. Außerdem verfüge ich über ein ausgezeichnetes Gedächtnis und erinnere mich an jedes ihrer Passwörter. Neben Faceident hat sie überall einen Zugang mit Pin eingerichtet. Bei Formwandlern ist das definitiv sinnvoll. Sollte sie mal in einem anderen Körper stecken bleiben. Zugriff auf ihr Vermögen und private Daten sind dadurch kein Problem.

Ich zögere kurz, klicke dann aber selbstbewusst auf die Leertaste und gebe das Passwort ein. Da sind sie. Infos zu den anderen drei Hexen ihres Zirkels. Lydia, eine Seelenfresserin, die ihren Lebenszweck zum Beruf gemacht hat. Sie leitet eine Modelagentur. Fernando hat sich in den letzten Jahren für eine Laufbahn als Musiker entschieden. Die willigen Opfer laufen ihm wahrscheinlich regelrecht zu.

Schließlich Maximilian. Ich ziehe sein Bild, das ich in einer E-Mail gefunden habe, etwas größer. Er ist auch ein Gestaltwandler, wobei er sich rein auf einen Wolfskörper spezialisiert hat. Wie meine Hexe, zieht auch er die Abgeschiedenheit vor und lebt ländlich im Schwarzwald. Die beiden hatten noch mehr gemeinsam. Sie haben sich immer wieder für ein paar Tage in einem Hotel auf halber Strecke getroffen. Wahrscheinlich, um über die anderen beiden und ihre Geltungssucht zu lästern. Wie Sabrina ihn beschrieben hat, steht er ihr an Sadismus in nichts nach. Doch irgendwas bringt mich dazu immer wieder das Foto anzuschauen. Diese dunklen Augen, das markante Kinn, die scharfen Wangenknochen.

Etwas regt sich in mir und mein Unterleib zieht sich mit einem seltsamen Kribbeln zusammen. Erschrocken presse ich die Hand auf meinen Bauch. Verdammt, bestimmt Durchfall! Wehe, wenn dieser Körper keine Laktose verträgt! Ich nehme den Becher und schaue sehnsüchtig auf meine Milch. Das ist der Hauptgrund, warum ich morgens aufstehe! Schnell erhebe ich mich, klappe den Laptop zu und beschließe ein paar Schritte durch den Garten zu laufen. 

Zurück zur eigentlichen Frage: Was mache ich mit meinem Leben? Mit all dem Wissen und all der Wut, die sich in mir über die Jahrhunderte aufgestaut hat? Klar, ich könnte Krankenschwester werden oder in den Kundenservice gehen, aber irgendetwas in mir ruft mich in eine andere Richtung. Der Gedanke, dass da draußen Monster wandeln, die unaufhaltsam unschuldige Kinder fressen und ausbeuten, rumort in mir. Das kann ich nicht zulassen. Das WERDE ich nicht zulassen!

Ich bleibe stehen und lassen den Blick über den abgebrannten Anbau meines Häuschens gleiten. Stellenweise schwelt und qualmt es noch ein bisschen, aber das erledigt sich spätestens beim nächsten Regen. Selbstbewusst stemme ich die freie Hand in die Hüfte und nippe an meiner Sahne. Ha! Die erste Hexe wäre erledigt. Die anderen drei kriege ich auch noch klein! So klug wie ich bin, wird es sicher ein Leichtes, ein paar waffentaugliche Zauber ...

„Aaahhhhh!"

KLIRR

Platsch

Gerade noch gelingt es mir den Sturz mit den Händen abzufangen, aber kleine Steinchen bohren sich schmerzhaft in meine Handflächen.

„Wie zur Hölle schaffen Menschen es, OHNE SCHWANZ stehen zu bleiben?", schreie ich meinen Frust heraus.

Ich habe mir zwar kaum weh getan, doch die Tasse ist zersprungen und der köstliche Inhalt ist mir zu großen Teilen ins Gesicht gespritzt. Ich rapple mich auf, wische mir über die Wangen und klopfe mir den Staub vom Kleid. Schnell die Scherben aufsammeln und zurück zum Haus. Ich brauche dringend noch eine Dose Kaffeesahne!

Gut. Vielleicht sollte ich erst lernen, beim Stehen nicht nach vorne umzukippen, bevor ich mich auf Hexenjagt begebe. Autofahren können wäre bestimmt auch nicht schlecht. Außerdem duschen, sitzen, eine Toilette benutzen, Schuhe tragen und noch ein, zwei andere Dinge, die auffallen würden. Entschlossen drehe ich mich auf der Türschwelle nochmal um und werfe einen Blick über den Gartenzaun in den großen dunklen Schwarzwald.

Aber dann! Direkt danach könnt ihr was erleben! Sorgsam lecke ich mir über das Handgelenk und fahre mit der feuchten Stelle über meine Stirn und den Haaransatz. Sobald ich diese Kleinigkeiten beherrsche, könnt ihr Monster da draußen euch warm anziehen! 

Knusper, KnusperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt