Kapitel 4 - Das Geheimnis

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„Iiih! Guck mal, was da krabbelt!" Nadja hat sich zwischen die Hyazinthen geduckt und beobachtet, wie sich ein Insekt panisch in Sicherheit bringt. Ihre Haarbüschel ragen zwischen den Blüten hervor und ich atme tief durch.

"He he, ich hab was Besseres!" Ihr kleiner Bruder kommt langsam auf sie zu. Seine Augen sind auf den Stock gerichtet, an dessen Spitze ein kleiner schleimiger Klumpen sitzt. Wahrscheinlich eine Nacktschnecke.

„Wäh! Nimm das weg! NIMM DAS DING WEG!" Amüsiert und gleichzeitig massiv genervt beobachte ich, wie die Kinder durch den Garten rennen. Sabrina wirft hin und wieder einen zufriedenen Blick aus dem Küchenfenster, um sich zu vergewissern, dass ihre Beute in Reichweite bleibt. Wahrscheinlich wird sie den Tag mit Kochen, Putzen, Vorbereiten des satanischen Rituals und Backen verbringen. Heute Abend werden sie und Klaus die restlichen Lebkuchenmänner einsammeln. Die Dinger haben ihren Zweck mehr als erfüllt. Wir brauchen hier keinen Menschenauflauf.

Menschenauflauf. Kurz kichere ich innerlich über mein unbeabsichtigtes Wortspiel. In einem Kochbuch für Hexen wahrscheinlich eine beliebte Seite.

HEY, WAS SOLL ICH MACHEN? Irgendwann färbt auch der übelste Humor ab!

Aber zurück zu den wichtigen Überlegungen! Wie erklärt man jemandem, dass sein Leben in Gefahr ist? Per se wäre das kein Problem, wenn es um einen absehbaren Bären- oder Serienkiller-Angriff ginge. Es ist allgemein anerkannt, dass es Bären und Serienkiller gibt.

Jemanden davon zu überzeugen, dass Monster existieren und man sich in der Gewalt einer Hexe befindet, könnte knifflig werden. Vor allem, wenn man sich in Gesellschaft besagter Hexe pudelwohl, sicher, satt und zufrieden fühlt. Wenn jeder Grund, Angst zu haben, ausradiert wurde.

Zum Glück bin ich, wie bereits angedeutet, brillant. Insbesondere, wenn ich ausgeschlafen bin. Schritt Nummer eins meines hervorragenden Plans ist, die Kinder dazu zu bringen meine Außergewöhnlichkeit anzuerkennen. Dürfte nicht schwierig werden. Die Vorbereitungen dazu sind bereits abgeschlossen. Der zweite Schritt ist, ihnen die Gefahr zu erläutern. Der dritte ist die Flucht.

Ich lecke mir bedächtig die linke Vorderpfote und schiele dabei wieder durch das Küchenfenster. Perfekt, das alte Ekel hat sich Putzeimer und Besen geschnappt. Wenn sie mit der Küche fertig ist, wird sie sich den hinteren Teil des Hauses vornehmen. Dann muss ich handeln! Ungeduldig beobachte ich sie beim Schrubben und Wischen. Wenn das noch länger dauert, kann ich mein zweites Nickerchen einschieben. Das letzte Schläfchen ist schon ewig her. Bestimmt anderthalb Stunden!

Endlich zieht das Weib die Tür zum Flur hinter sich zu. Wie elektrisiert zuckt mein Kopf umher. Kein Klaus in Sicht.

„Gib die Flasche her! Ich hab' zuerst gesagt, dass ich was trinken will!"

„Aber ich war zuerst da." Nadja grinst breit und setzt die Glasflasche mit der roten Flüssigkeit an die Lippen.

„Heeeyyy! Lass was übrig! Du bist die BLÖDESTE große Schwester, IMMER!" Um sie herumhüpfend beobachtet Michael entsetzt, wie Nadja, ohne abzusetzen fast den gesamten Inhalt leert.

„Du hättest halt sagen müssen, wie viel ich übriglassen soll." Hämisch funkelt sie ihren empörten Bruder an und die wenigen Tropfen schwappen vor seiner Nase hin und her. "Und jetzt vernichte ich die Gummibärchen!"

Bevor dieses Drama eskaliert, springe ich zwischen den Kids hindurch zu der Bank, auf der ihre Snacks liegen. Es stehen noch weitere gekühlte Flaschen hier, aber natürlich müssen beide die rote haben. Mein Augenmerk liegt auf den heißbegehrten selbstgemachten Gummitieren meiner Herrin. Mit spitzen Zähnchen schnappe ich mir den Beutel und stoße mich ab.

Elegant gleite ich durch die Luft. Die ausgestreckten Kinderhände, die mir meine Beute abnehmen wollen, bewegen sich lächerlich langsam auf mich zu. Mit geweiteten Augen beobachten die beiden, wie ich mit einem kleinen Knicks auf dem Kies lande und ihnen über die Schulter einen provokativen Blick zuwerfe.

Ich nehme noch wahr, wie sie sich in Bewegung setzen, bevor ich mit langen Sätzen zur Scheune eile. Zum Glück weiterhin kein Zeichen von dem dämlichen Vogel oder der alten Hexe. Ich zwänge mich durch den schmalen Türspalt und innerhalb von Sekunden haben sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt. Sorgsam lasse ich die Süßigkeit auf einem Strohballen nieder und richte meine Augen auf die Kinder, wie sie das Tor aufschieben.

Showtime!

„Was machst du da, Kitty?" Michaels Augen werden groß, als er meine wilden Pirouetten verfolgt. Wahrscheinlich aus Bewunderung für meine Grazie.

„Sie ist verrückt geworden!", flüstert seine Schwester andächtig.

Verrückt? Meine Schnurrhaare zittern vor Entrüstung! Haben die beiden es wirklich verdient, dass ich sie rette? Ich bleibe stehen und deute mit meinem Näschen auf die Stelle, die ich vor dem Strohballen umkreist hatte.

„Vielleicht ist sie krank? Sollen wir Sabrina Bescheid sagen?"

„Maaauuuuauuu!", sage ich deutlich und tippe mit der Pfote vor mich.

„Guck mal da!" Endlich hat Nadja den Blick auf den Boden gerichtet. „Sind das Worte?"

Natürlich sind das Worte! Ich kann zwar nicht so gut Stift halten, aber ich kann mit der Pfote Buchstaben in den Sand kratzen.

„Ha-llo Nad-ja und Michael! L G Kitty", liest Michael stockend vor.

Ich nicke zufrieden und schaue die beiden wissend an.

„Ha ha ha!"

Irritiert runzle ich meine pelzige Stirn. Warum lacht das Mädchen?

„Ich wette Sabrina will uns einen Streich spielen!"

Nicht dein Ernst, Kleine! Ich sag doch, Menschen sind dämlich! Wie von der Tarantel gestochen wetze ich über die Schrift und verwische mit meinen Pfoten die Buchstaben. Neuer Versuch. Ich halte inne und ziehe meine rechte Pfote über den Boden. Dem Keuchen hinter mir entnehme ich, dass ich beobachtet werde.

„Nicht Sabrina. Ich allein.", liest Nadja vor und sieht mich dann direkt an. „Du kannst schreiben, Kitty?"

Mit offenen Mündern gaffen die beiden mich an. In diesem Moment kommen mir die Süßigkeiten zugute. Sie verwirren, machen aber auch leichtgläubig. Ich nicke zackig und Michael schlägt sich die Hand vor den Mund.

„Hat Sabrina dir das beigebracht?"

Ich schüttle energisch den Kopf und fege wieder über die Worte. Mit Bedacht zeichne ich neue Buchstaben in den Sand.

„Das sieht ja noch krakeliger aus, wie bei mir", mault Michael mit zusammengekniffenen Augen.

„Fchchfch!", zische ich ihn an. Ich habe keine Daumen! Was ist deine Ausrede?

„Experimente. Labor! Ist Geheimnis. Nur für Kinder!", flüstert Nadja die auf dem Boden geschriebenen Worte.

Das Ausrufezeichen haben ich dick unterstrichen. Nervös peitscht mein Schwanz hin und her. Jetzt kommt der kritische Part. Wenn sie damit zu Sabrina rennen, sperrt die mich in eine Kiste und vergräbt sie irgendwo bis der Blutmond vorbei ist.

„Oh toll, ich liebe Geheimnisse!" Michael klatscht in die Hände und strahlt.

„Ja, keine Sorge, es bleibt unser Geheimnis, du armes Ding!" Nadja nickt ernst.

Erleichtert gehe ich zu ihr und drücke mich schnurrend an ihre Beine. „Möchtest du gestreichelt werden?", will das Mädchen wissen und beide beugen sich begierig zu mir herunter.

Ob ich schmierige, klebrige und dreckige Kinderhände auf mir haben will? Nein, danke! Aber ich nicke tapfer und lasse es über mich ergehen. Lasse mich kraulen und beantworte bereitwillig neugierige Fragen. Es ist wichtig eine Beziehung aufzubauen. Wenn ich heute Nacht zu ihnen komme, müssen sie mir sofort glauben und vertrauen. Jede Sekunde, die sie zögern, könnte ihren sicheren Tod bedeuten.

Knusper, KnusperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt