Kapitel 6. Ein Beispiel

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Eine Woche verging seit Amelies letzter Sitzung bei Dr. Antony. Sie hatte oft darüber nachgedacht, was er gesagt hatte. War es normal, dass man sich so leicht überzeugen lies, wie sie? Aber woher kommen dann die ganzen Probleme, die sie sich immer und immer wieder selber einbrockte? Sie dachte weiter auf der ersten Sitzung herum. War Dr. Antony vielleicht noch nicht so ganz klar, was sie so sehr an sich störte?

Und tatsächlich hatte Amelie ein noch treffenderes Beispiel für ihr Problem. Sie hatte sich allerdings nicht so direkt getraut, es einem fremden Mann zu erzählen. Schon gar nicht, wenn er so ein Wesen hatte, wie ihr neuer Psychologe, Dr. Paul Antony. So ein gefestigter Charakter, so ein selbstbewusstes und dominantes Auftreten. Und er sah verdammt gut aus, fand Amelie. Das schüchterte sie noch mehr ein.

Aber andererseits war sie dort in Behandlung, um etwas gegen ihre Meinungsschwäche zu tun. Sie wollte nicht mehr herum kommandiert und herum geschubst werden. Aber das andere Beispiel war so intim, dass sie nicht wollte, dass es jemand weiß. Sie hatte bis jetzt noch niemandem davon erzählt. Naja, mal davon abgesehen, dass es diejenigen wussten, die in dem Moment anwesend waren. Aber die hatten erstaunlich gut dicht gehalten und es niemandem erzählt. Und so war es ein Geheimnis geblieben.

Aber das soll sich ändern, fand Amelie. Würde sie es ihm nicht erzählen, wäre das nur wieder ein Fall davon, dass sie sich nicht traute, etwas zu sagen und alles mit sich machen lies. Also musste sie anfangen, etwas daran zu ändern. Sie musste sich wehren, auch wenn es ihr schwer fallen würde, sich zu überwinden. Aber sie wollte alles erzählen, alle Karten auf den Tisch legen.

Das Gefühl von Mut durchfuhr sie, als sie auf ihrem Bett lag und darüber nachdachte. Ich werde es ihm erzählen. Und so war es auch. Ein paar Tage vergingen, bis Amelie die nächste Sitzung hatte. Doch der Gedanke hing wie eine Wolke über ihr. Es gab kaum ein treffenderes Beispiel dafür, was sie so sehr an sich selber störte. Nichts beschrieb ihre Verletzlichkeit, ihre Manipulierbarkeit und ihren Hang, sich stärkeren hinzugeben, besser, als diese Situation. Und so dachte sie andauernd darauf herum, wie sie es Dr. Antony erzählen sollte. Sie überlegte, wie sie anfangen und das Gespräch darauf lenken sollte. Sie hatte sich alles schon zurecht gelegt und wusste, wie sie es anstellen sollte. Aber trotz dass sie in ihrem Kopf auf alles vorbereitet zu sein schien, war sie sich mit jeder Stufe des Treppenhauses von Dr. Antonys Praxis unsicherer und ängstlicher.

Die Zeit, in der sie vor dem Behandlungsraum saß und wartete, erschien ihr ewig. Noch ein weiteres (gefühlt war es das 172.) Mal ging sie im Kopf alles durch, aber wurde mittendrin von der sich öffnenden Tür unterbrochen. Dr. Antony stand im Türrahmen und sagte mit seiner markanten und ruhigen Stimme "Hallo Amelie! Wollen wir?" Und er trat beiseite und streckte seinen Arm zur Seite aus, als würde er Amelie den Weg in den Behandlungsraum frei machen und ihr die Richtung weisen.

Amelie stand auf. Sie merkte jetzt erst, wie kaltschweißig ihre Hände waren. Langsam schlurfte sie in das Zimmer und legte sich wieder auf die Couch. Der Blick war Richtung Decke gerichtet. Und sobald Dr. Antony sich hingesetzt hatte, begann Amelie mit ihrem einstudierten Monolog.

"Dr. Antony, ich habe darüber nachgedacht, worüber wir die letzten Stunden geredet haben. Sie haben gesagt, dass es normal wäre, dass man sich hin und wieder überzeugen lässt. Aber ich glaube, dass es bei mir anders ist." Sie schluckte und ihr Herz raste. Dr. Antony machte nicht den Anschein, als würde er einhaken wollen, was Amelie neuen Rückenwind gab, ungestört ihre Rede fortzusetzen. "Ich glaube, ich lasse mich zu Sachen überreden, die mir normalerweise völlig widerstreben. Und ich hab auch ein Beispiel dafür. Die letzten Male habe ich mich nicht getraut, es zu erzählen. Aber ich glaube, nur so können Sie wirklich verstehen, was ich meine."

Dr. Antony, der sich gerade noch Notizen machte, legte plötzlich sein Klemmbrett auf dem er schrieb und den Kugelschreiber, beiseite, legte ein Bein über das Andere und faltete die Hände über dem Knie, das oben lag. Er sah sie an, das konnte Amelie spüren, auch wenn sie weiterhin Richtung Decke blickte. Und er sagte "Und was für ein Beispiel?" Amelie schluckte erneut, schloss die Augen und begann zu erzählen: "Also, vor 2 Jahren waren wir auf Klassenfahrt in Hamburg..."

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