Kapitel 5. Stille

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Das leicht kratzende Geräusch des Kugelschreibers auf dem Papier verstummte. Amelie hatte bislang gewartet und nichts gesagt. Sie lag einfach da, den Blick in Richtung Decke gerichtet, wartend was passieren würde. Sie war sich nicht sicher, ob sie einfach etwas hätte erzählen sollen, oder ob Dr. Antony den Anfang machen würde, wenn er soweit war. Aber wahrscheinlich hätte er schon was gesagt, wenn sie über sich hätte reden sollen. Das hat er aber bis jetzt noch nicht getan, also wartete sie.

"Also Amelie, du bist ja zum ersten Mal bei mir. Wieso bist du denn hier?" Amelie erinnerte sich daran, was ihre Eltern in den letzten Wochen immer wieder zu ihr gesagt hatten. Sie wäre irgendwie charakterschwach, würde sich zu oft hin und her schubsen lassen und hätte nie gelernt, dagegen zu halten, wenn ihr jemand was sagte.

Während sie sichtlich nachdachte und überlegte, merkte sie nicht, wie Dr. Antonys Blick von seinen Notizen zu Amelie wanderten. Er musterte sie von oben bis unten. Er inspizierte, was sie anhatte, was ihre Körpersprache aussagte und was ihr Äußeres über sie verriet. Aber irgendwie fiel ihm sofort noch etwas anderes an ihr auf. Je mehr er sie beobachtete, dachte er sich Sie ist schon ziemlich hübsch.

"Meine Eltern sagten, ich solle mich von Ihnen mal untersuchen lassen" sagte Amelie und riss ihn damit aus seinen Gedanken. "Sie sagen, ich würde mir immer wieder von anderen alles sagen lassen." Dr. Antony machte ein brummendes Geräusch, ein "mh" als Zeichen, dass er verstanden hatte, was sie meinte und dass sie fortfahren sollte. Doch Amelie wusste nicht, was si sagen sollte. Es trat Stille ein und Amelie war verunsichert. Doch nach einiger Zeit sagte er "Erzähl ruhig weiter." Amelie begann wieder nachzudenken, was sie ihm noch erzählen könnte. Sie war aber irgendwie verunsichert. Irgendwie hatte sie sich das anders vorgestellt. Sie dachte, dass er sie ausfragen würde. Stattdessen herrschte nur Schweigen.

"Ich bin jemand, der nicht gerne Streit oder Stress mit anderen hat. Deswegen mache ich das halt so" sagte sie und Dr. Antony antwortete wieder "mh". Er wartete kurz und sagte dann "Du merkst sicherlich schon, dass ich nicht viel sage. Das hat einen einfachen Grund: ich möchte etwas über dich erfahren. Wenn ich dir Fragen stelle, könnte es sein, dass du nur mit Ja oder Nein antwortest. Aber das bringt uns nicht wirklich weiter. Wenn ich also erstmal nur warte und zuhöre, kommen die meisten Patienten von alleine ins Reden, weil sie versuchen, die Stille zu füllen. Und dann geben sie mehr von sich Preis, als wenn ich ihnen Fragen stelle." Das macht Sinn dachte Amelie .

"Okay, verstehe. Also ich habe halt nicht gerne Streit. Und ich denke, wenn ich anderen Widerspreche oder nicht das tue, was sie von mir wollen, dann könnte es Diskussionen geben. Und das will ich vermeiden." Dr. Antony begann wieder etwas zu schreiben. Amelie überlegte kurz, ob sie ihm Zeit geben sollte, um seine Notizen zu Ende zu schreiben. Aber sie kam sich dann vor, wie ein Lehrer beim Diktat in der 4. Klasse. Und Dr. Antony hatte darin ja wahrscheinlich auch schon Übung. Also fuhr sie fort. "Ich habe mich als Kind schon immer schlecht gefühlt, wenn meine Eltern etwas von mir wollten und ich es nicht richtig gemacht habe. Ich wurde dann besonders von meinem Vater immer sehr schnell angemeckert." - "Interessant..." murmelte Dr. Antony und schrieb weiter. "Und deswegen habe ich mir angewöhnt, möglichst brav zu sein und zu tun, was mein Vater mir gesagt hat."

Dr. Antony machte eine Pause vom Schreiben. Er sagte "Also ging es speziell davon, dass du getan hast, was dein Vater von dir wollte?" - "Ja, genau. Aber das habe ich mir irgendwie angewöhnt. Und in der Schule war es dann zum Beispiel auch so. Ich habe mich bemüht, immer eine gute Schülerin zu sein, hab immer gelernt und meine Hausaufgaben gemacht." Dr. Antony machte wieder das "mh-Geräusch" und fuhr aber direkt fort "Aber das sollte man als Schüler ja auch tun, oder? Seine Hausaufgaben machen und lernen." Amelie dachte nach. Natürlich hatte er Recht. Sonst würde es ja keine Schüler mit einem Einser-Durchschnitt geben. Aber sie spürte, dass es da einen Unterschied gab. Es war etwas anderes, bestrebt zu sein, einen guten Durchschnitt zu haben, als das was sie empfand. Also dachte sie über ein treffenderes Beispiel nach.

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