Kapitel 2. Wohlfühlfaktor

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Das Treppenhaus erschien Amelie ewig lang. Kühle grauweiße Fliesen pflasterten den Weg und ein Geländer aus dünnen Eisenstreben und einem schwarzen Handlauf führten sie. Das machte diesen Weg nicht einfacher, der sie ohnehin schon einiges an Überwindung gekostet hatte. Aber jetzt gab es so oder so kein Zurück mehr. Und so stieg sie Stufe um Stufe bis in das 4. Stockwerk des Gebäudes. Die 48 Stufen bis zum Ziel gaben Amelie genug Zeit um nochmal darüber nachzudenken. Zum Psychologen gehen? So als ob ich wahnsinnig oder irre wäre? Schon irgendwie eigenartig.

Doch sie hatte sich das nicht ausgesucht. Ihre Eltern hatten den Termin gebucht, ohne sie zu fragen, was sie davon hielt. Und das obwohl sie mittlerweile 18 und daher auch erwachsen war. Aber wieder war Amelie in einer Situation gelandet, in der jemand anderes einfach für sie entschieden hatte. Als wäre sie noch ein Kind. Und so wurde sie hier heute zu dem Termin geschickt, auf den sie eigentlich gar keine Lust gehabt hätte. Sie ärgerte sich. Über sich, über ihre Eltern, über diese blöden, hässlichen deprimierenden Stufen in diesem tristen Treppenhaus. Sie wäre am liebsten einfach zu Hause geblieben. Auch wenn sie wusste, wie sehr sie diese Entscheidungsschwäche beeinträchtigte und belastete. Wie sehr es sie immer wieder deprimierte, wenn sie bei einer Frage einfach übergangen oder in eine bestimmte Richtung gedrängt oder gar manipuliert wurde.

Und dieser Ärger, diese Traurigkeit und die Unsicherheit tobten gerade in ihr, während sie Stufe um Stufe des Treppenhauses bezwang. Endlich kam sie im 4. Stock an. Ein Namensschild links an der Wand neben einer Tür mit Milchglaseinsatz verriet, dass Amelie angekommen war:

Dr. Paul Antony - Diplompsychologe, Facharzt für Verhaltenstherapie

Rechst der Tür stand eine Goldfruchtpalme, die dem Treppenhaus wenigstens etwas Farbe verlieh. Sicherlich ein psychologischer Trick dachte Amelie. Wenn man sich beim Psychologen wohl fühlt, fällt es einem leichter, über seine Probleme zu reden.

Sie drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür. Ein langer Flur erstreckte sich vor ihr. Linksseits des Flures standen Stühle an der Wand. Dort sollten sich die Patienten hinsetzen, wenn sie warten sollten. Aber aktuell wartete niemand. An den Wänden hingen zwischen einigen Türen abstrakte Gemälde. Einige waren schwarzweiß, andere dafür farbenfroher. Aber allesamt hatten sie etwas surreales. Auf einem Bild war ein Mädchen auf einer Wiese zu sehen, dass einen Haufen Luftballons an Schnüren in der Hand hielt und kurz davor war, vom Boden abzuheben. Doch das Bild war verkehrt herum. Auf einem anderen Bild war eine Maske, wie man sie vom Karneval in Rio de Janeiro kennt, nur war sie erstaunlich detailreich. Je länger man hinsah, umso mehr kleine Motive, Symbole und Malereien konnte man auf ihr erkennen. Es wirkte fast so, als bestünde diese Maske nur aus den einzelnen Motiven. Und der Gesichtsausdruck der Maske war zweigeteilt: links hatte sie ein breites Grinsen aufgesetzt, während sie rechts die Mundwinkel nach unten zog und eine Träne (die wiederum eine eigene kleine Malerei war) lief an dem traurigen Gesicht herunter. Die beiden Gesichtshälften schienen aber dennoch nahtlos ineinander über zu gehen.

Irgendwie fand Amelie die Gemälde sehr interessant und so schweifte ihr Blick von einem Gemälde zum anderen, während sie den Flur entlang ging. Sie steuerte auf die geöffnete Tür am Ende des Ganges zu, denn dort konnte sie sowas, wie eine Theke erkennen. Das musste also wohl die Anmeldung sein. Die freundliche, etwas ältere Dame, die hinter dem Tresen saß begrüßte Amelie warmherzig. Und wieder hatte sie den Eindruck, dass man hier sehr um einen Wohlfühlfaktor bemüht war. Überall duftete es gut, das Licht war angenehm dezent, aber nicht zu düster und selbst die Sprechstundenhilfe hinter ihrem Tresen wirkte sehr einladend. Während die Dame Amelies Daten aufnahm, realisierte sie, dass diese ganzen kleinen Dinge tatsächlich eine positive Wirkung auf sie hatte. Sie fühlte sich irgendwie gut aufgehoben.

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