I . Die Entdeckung

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TRIGGERWARNUNG: Queerfeindlichkeit, Rassismus, Morddrohungen, Gewalt

„Geh sterben, Unmensch!"

Robin stöhnte. Es war schon beinahe an der Tagesordnung, dass diskriminierende und verletzende Kommentare in Robins Postfach des Social-Media-Accounts gespült wurden. In der Anonymität des Internets kam es sogar sehr häufig vor, dass Robin mit gemeinen Kommentaren bedacht wurde und bisweilen auch schon mal Morddrohungen erhielt. In einer Welt, in der man sich leicht hinter einem Pseudonym verstecken konnte, schien es manchen Menschen immer leichter zu fallen, andere zu diffamieren, ohne seinem Gegenüber dabei selbst ins Gesicht blicken zu müssen. Dass Robin auf der Seite des größten Jobportals des Landes die Pronomen klar mit „they/them" betitelte, machte they immer öfter zur Zielscheibe mehr oder auch weniger fanatischer Unruhestifter*innen.

„Geh sterben, Unmensch!"

Der provokante Hasskommentar zierte noch immer Robins Landing Page. Dass es hier keine funktionierenden Sicherheitsmechanismen und Algorithmen für die Löschung solcher Kommentare gab, hatte Robin auch zu dem Job gebracht, dem they sich heute widmete: Als Netzsicherheitsanalyst*in war Robin auf die Analyse und Untersuchung solcher Kommentare spezialisiert und entwickelte Lösungen, um diese von vorneherein zu filtern und den Nutzer*innen erst gar nicht anzuzeigen. Hass und Hetze im Netz hatten in den letzten Jahren extrem zugenommen und bescherten vor allem Menschen mit nichtkonformen Lebensmodellen bisweilen übervolle Kommentarleisten und Postfächer. Und längst nicht jede Äußerung der fremden Masse war dabei positiv.

Robin klickte genervt den Kommentar an und sah - wie so oft - in das generische Gesicht einer von künstlicher Intelligenz erstellten Maske, mit dazu passendem, uneindeutigem Profil. Vermutlich ein Zweitaccount, der nur dazu gedacht war, Hass zu säen und dabei selbst unerkannt zu bleiben. Der Cursor der Maus verharrte nur für ein paar Sekunden auf dem stilistischen Icon, dann wanderte der Kommentar mitsamt seinem Inhalt in den virtuellen Abfalleimer. Jedoch nicht ohne den dazugehörigen Usernamen vorher auf die Blocklist zu setzen.
Ihr Limit wurde erreicht. Bitte entfernen Sie User*innen von der Liste, um neue hinzuzufügen."
Das Pop-up auf dem Bildschirm brachte Robin erneut zum Stöhnen. Noch so ein Unding der Seite: Die Blocklist fasste bereits über tausend Kontakte und dass, obwohl Robin regelmäßig aufräumte.

„Okay, Gayhater0815, du hast Glück heute", murmelte they in die Stille des Arbeitsplatzes, in der nur die Lüftung des hochmodernen Rechners leise zu hören war. „Ich gebe dir eine Schonfrist, bis ich diese Seite neu programmiert habe. Das Ticket für die Erweiterung der Blocklist wandert gleich mal in der Prio-Liste nach oben." Robin öffnete die JIRA-Seite, auf der they mit den Kolleg*innen die Aufgaben für den Kunden nach Dringlichkeit sortiert hatte und die they und their Team nacheinander abarbeiten mussten. Der Projekt-Scope war für vier Wochen angesetzt, doch schon nach zwei Tagen war für Robin klar: Hier war noch viel zu tun. Vermutlich würde es mit dem Zeitplan eng werden. Der Auftraggeber würden das Budget wohl hochsetzen müssen. Das bedeutete mehr Zeit, oder mehr Überstunden. Wie so oft.

Mit wachsamem Blick wanderten Robins hellblaue Augen über den Bildschirm und scannten die vordergründigen Kommentare. Die Erfahrung der letzten Monate zahlte sich aus, als immer mehr Muster und Wiederholungen von Robins analytischen Geist erkannt wurden. They war gut in dem Job, und betrieb ihn mit fast leidenschaftlichem Eifer; waren their private Accounts doch schon seit Jahren immer wieder von Anfeindungen betroffen gewesen. Seit they sich offiziell dazu bekannt hatte, nicht-binär zu sein, hatte sich für Robin einiges verändert. Their offener Umgang mit dem Gefühl, sich weder der weiblichen noch der männlichen Identität einer binären Gesellschaft vollständig zugehörig zu fühlen, sondern einfach nur als Mensch wahrgenommen werden zu wollen, war nicht nur auf Verständnis gestoßen. Während die Menschen in der Realität um them herum immerhin größtenteils den Anstand besaßen, sich hinter vorgehaltener Hand über diese „woke Entwicklung der Generation Z" oder diese „Phase, um Aufmerksamkeit zu generieren" aufzuregen, hatten die Hater*innen im Internet weniger Hemmungen, Robins Postfach täglich mit menschenverachtenden Kommentaren zu fluten.

Aus welchen Gründen auch immer war their neue Definition einigen Individuen und Gruppen ein Dorn im Auge, obwohl they diesen Personen weder etwas angetan noch sie in ihrer Freiheit eingeschränkt hatte. Um sich wenigstens etwas gegen diese Entwicklung wehren zu können, arbeitete Robin nun schon seit einem Jahr bei Sherwood Security, einem Unternehmen, das anderen dabei half, ihre Social-Media-Accounts vor den Angriffen böser Worte zu schützen.

Als Robin sich nun immer tiefer in die Satzfragmente und Wortbilder hineindachte, die they am Morgen aus verschiedenen Profilen der Seite gesammelt hatte, fiel them allmählich etwas Seltsames auf: Die Kommentare, die am heutigen Diversity Day von their Community für mehr Toleranz und ein freundliches Miteinander abgesetzt worden waren, wurden auffällig schnell und mit ganz ähnlich klingenden Worthülsen kommentiert. Die Nutzer*innen, die diese gebrauchten, schienen ebenso ähnlich zu sein. Eine Stichprobe von etwa zehn Accounts enttarnte die Profile schnell als Fake, waren sie doch erst wenige Minuten vor dem ersten Hetzkommentar angelegt worden. Robin stand auf und ging ein paar Schritte durch den Raum. Bewegung half them meistens, um their Gedanken zu ordnen und einen klaren Kopf zu bekommen. Und den brauchte Robin ganz dringend.

Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen schritt Robin durch den Raum und überlegte, was das zu bedeuten hatte. Der heutige Tag war einer, an dem man sich fast sicher sein konnte, dass die Frequenz von Hasskommentaren steigen würde. Vermutlich hatten einige Menschen es darauf abgesehen, ihrer Wut und ihrem Ärger über den Fortschritt in der Gleichstellung aller Menschen Ausdruck zu verleihen, und sich deshalb Fake-Profile angelegt. Aber würde man dies wirklich erst so kurz vor der Veröffentlichung der Beiträge der größten Pro-Diversität-Profile tun? Und dann auch noch so schnell darauf reagieren?

Robin schien es fast so, als hätten diese Fake-Accounts nur darauf gelauert, dass etwas geschrieben wurde, um sich dann mit sinnfreien, vorbereiteten Worthülsen auf die Posts zu stürzen. Immer wieder war Robin auf ähnliche Formulierungen gestoßen, und immer war der Hass kurz nach dem initialen Post abgesetzt worden. Diese Kommentare waren so provokativ geschrieben, dass sie in sehr kurzer Zeit hitzige Diskussionen auf allen Seiten losgetreten hatten. Unterstützer*innen und Kritiker*innen lieferten sich zuweilen ausufernde Wortgefechte, die schnell vom eigentlichen Thema ablenkten und den Sinn der Ursprungsbotschaft bis ins Unkenntliche verzerrten. Dies war nicht das Werk vereinzelter kleiner Wutlinge, dies war gezielte Propaganda! Dahinter musste eine ganze Gruppe von User*innen stehen, anders wäre dieses Vorgehen wohl kaum zu bewältigen. Es sei denn...

„Na, Robin! Alles fit bei dir? Brauchst du einen Kaffee?" Die vertraute Stimme von Tucker riss Robin aus den Überlegungen, die beinahe zum Ziel geführt hatten. „Hey, wie immer im falschen Moment", kommentierte Robin und fuhr sich mit den schlanken Fingern durch die kurzen blonden Haare. Jetzt hatte they doch wirklich kurz den Faden verloren!

„Okay", meinte Robin resigniert, nachdem they vergeblich versucht hatte, die zerronnenen Gedanken wieder zusammenzusetzen. „Bevor ich mich wieder dem Problem widme, kann ich wirklich einen Wachmacher gebrauchen." Robins Blick fiel auf die hochmoderne Smartwatch am rechten Handgelenk. „Zehn Minuten für den Kaffee und, wenn du hast, zehn weitere für mein kleine Herausforderung!", bot they ein wenig besser gelaunt an.

„Klingt spannend", freute sich Tuck und rieb sich die dunklen Hände. Seine braunen Augen funkelten. „Ich lade dich ein!"

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