34.

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"Bier?"

"Ja, wieso nicht."

Manuel kommt mit zwei Flaschen Bier in sein Wohnzimmer zurück und stellt sie auf dem kleinen Holztischchen ab. Er entfernt die Deckel mit einem einfachen Trick des guten alten Feuerzeuges und hält mir schließlich ein Getränk vor die Nase. Ich nehme es dankend entgegen. Wir prosten uns zu und genießen den ersten Schluck.
Ich habe schon lange kein Bier mehr getrunken. Warum sollte ich auch? Alleine habe ich nicht die Lust dazu. Ich trinke so etwas nur in Gesellschaft anderer.

"Jetzt sag schon: Wie bist du auf die Idee gekommen, mir einen Brief zu schicken?", frage ich lächelnd und nehme einen weiteren kühlen Schluck Bier.

Manuel lacht kurz. "Einfach so. Ich hab mir gedacht, dass du genauso reagierst. Außerdem macht das heutzutage kein Mensch mehr, und deshalb wollte ich es tun. Damit ich dich überrasche." Ich schmunzle. Mein Blick bleibt auf einem Bilderrahmen hängen. Ist das dort eine Frau neben ihm? Womöglich seine Freundin? Aber er hat ja keine. Dann ist es vielleicht eine Ex?

"Okay. Wer ist das da hinten auf dem Foto?" Die Frau auf dem Bild hat braune lange Haare, eine rote Schleife im Haar und sieht sehr schlank aus. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie böse Dinge tut.

Er dreht sich um, da er mit dem Rücken zu dem Bild gesessen ist.

"Ah, das ist meine Ex-Freundin Leyla. Warum habe ich dieses scheiß Foto noch nicht weggetan?!", fragt er sich selbst und steht auf. Zurück kommt er mit dem Bilderrahmen in der rechten Hand. Er betrachtet es.

"Der Tag, an dem das Bild gemacht worden ist, ist bereits eine Weile her. Ungefähr zwei Jahre. Ein Jahr später haben wir uns getrennt."

"Das heißt, du bist seit diesem Zeitpunkt Single?"

Er nickt. "Single like a Pringle."

"Hat sich nie etwas ergeben?", will ich nun wissen.

Er schüttelt den Kopf. "Irgendwie war nie die Richtige dabei. Ein paar haben es zwar versucht, aber ich bin nicht mit eingestiegen. Ich habe gedacht, Leyla wäre die Eine für mich. Wir haben uns an diesem Abend, an dem das Foto gemacht wurde, verlobt. Aber so ist es doch immer: Man will heiraten, und auf einmal kommt einer der Verliebten drauf, dass er noch schnell fremdgehen muss. Warum macht man sowas?! Dass man sich an einen Menschen binden will, und eine Woche vor der Hochzeit steigt man mit einem anderen Typen ins Bett? Ich war echt enttäuscht! Als ich das erfahren habe, kamen mir sogar die Tränen. Ich bin mir wie ein kleiner Junge vorgekommen." Er legt das Foto beiseite.

"Auch Erwachsene haben Gefühle. Das verstehen viele nicht", sage ich leise. Manuels Worte schwirren in meinem Gehirn umher.

"Ich habe dann Schluss gemacht und sie ist nach Italien irgendwo an den Gardasee zurückgezogen. Ursprünglich kommt sie nämlich von Italien. Aber den genauen Standort weiß ich nicht. Ich glaube im Süden. Was ist jetzt mit dir und deinem Freund passiert? Sag es mir bitte. Ich habe dir meine Geschichte erzählt, und nun bist du dran. Wieso ist deine Beziehung auseinander gegangen?" Ich lese die Zutaten, die in meinem Bier enthalten sind. Soll ich es ihm sagen? Ich bin mir auf einmal nicht mehr so sicher, ob er es verstehen wird.

"Das ist eine lange Geschichte."

"Erzähl sie mir, bitte. Ich habe das Gefühl, dass du darüber reden solltest." Ich schlucke schwer. Ich möchte diese ganzen Erinnerungen nicht wieder in meinem ohnehin noch geschädigten Kopf haben, doch vielleicht tut es mir ja doch gut, noch einmal so richtig über dieses Thema zu sprechen.

"Es war ein gewöhnlicher Tag und meine Mutter hat mich einkaufen geschickt. Im Laden ist mir so ein seltsamer Typ aufgefallen, der mir Hilfe angeboten hat, obwohl ich keine gebraucht habe. Dann ist er wieder verschwunden.
Als ich nach dem Zahlen an der Kassa nach draußen gegangen bin, haben mich drei Männer überfallen. Einer davon - der Jüngste - ist dieser Mann von vorhin gewesen. Der andere hat wahrscheinlich die Lage gecheckt. Dann haben sie mir irgendetwas eingeflößt und ich habe nichts mehr mitbekommen." Ich mache eine kurze Verschnaufpause.

"Aufgewacht bin ich auf einem Dachboden. Alleine. Mit einem scheiß Gefühl. Diese drei Typen haben mich in diesem Haus eine Weile festgehalten. Sie haben Nacktfotos von mir gemacht, und diese mitsamt Videos auf Pornoseiten hochgeladen. Sie haben mich vergewaltigt und bloßgestellt. Aber irgendwann gewöhnt man sich daran. Ich habe mich auf den Jüngsten eingelassen und mich in ihn verliebt - das war eben René. Bei ihm haben sich auch gewisse Gefühle für mich entwickelt. Er hat den Beschützer gespielt, und mir vorgemacht, mich zu lieben, damit ich freiwillig mit ihm schlafe. Als er es geschafft hat, war eine Kamera aktiv, die alles gefilmt hat. Und er hat davon gewusst. Wahrscheinlich findet man das Video sogar noch im Internet."

Manuel sieht mich wie gebannt an. Er sagt nichts, sondern hört mir einfach nur zu.

"Als die Polizei dann eine Spur hatte, sind sie mit mir nach Österreich abgehauen. Dort haben mich die drei alleine gelassen; bei einem Pädophilen, der mich verprügelt, vergewaltigt und wieder blamiert hat. Nur viel, viel schlimmer. Ich bin seine Sklavin gewesen - ich musste für ihn Gemüse anpflanzen und dieses dann ernten. Ich musste sein Haus und sein Auto putzen und für ihn immer etwas kochen. Er hat mich aufgeschlitzt und meine Haare abrasiert, damit sie beim Sex nicht störten. Es hat jede Woche einen genauen Plan gegeben, welche Arbeiten ich verrichten muss. Wie in der Schule.

Wenn ich einmal nicht gefolgt habe, hat es eine schöne Strafe gegeben. Man kann sich vorstellen, was er getan hat."

Manuel hat Tränen in den Augen.

"Fünf Jahre habe ich gelernt, was es heißt, eingesperrt zu sein. Fünf lange Jahre sind an mir vorbeigezogen. Meine Freunde haben weitergelebt; gefeiert, die Schule abgeschlossen und ein Studium angefangen. Und ich? Ich habe einen alten Mann bedient, zu dem zusätzlich jede Woche seine Mutter kam, weil er ein kleines verwöhntes Muttersöhnchen war.

Dann hat mich René befreit. Ihm war es plötzlich egal, in den Knast gehen zu müssen. Aber somit hat er seine zwei Komplizen und diesen Arsch verraten. Doch ihm war alles egal; Hauptsache mir geht es wieder gut.
Aber mich hat es ordentlich erwischt. Ich war Hals über Kopf in diesen Mann - René - verliebt; auch, wenn er mich entführt hat. Ich habe ihn regelmäßig im Gefängnis besucht, und als er endlich entlassen wurde, sind wir gemeinsam weggeflogen. Es war traumhaft, und keiner konnte verstehen, warum ich noch etwas von meinem Entführer will. Nach diesem Urlaub hat René eine SMS von seinem Vater - dem zweiten Entführer - bekommen, dass er sich rächen wird und so weiter. Wir mussten flüchten und haben uns in Italien versteckt.
Ein Mann hat uns dort angegriffen und René hat ihn einfach getötet. Ich hab nicht glauben können, dass mein Freund zu so etwas fähig ist. Ich habe Angst bekommen und bin weggerannt. Etwas später in unserem Hotelzimmer, hat er eine Nachricht von einer Ex von ihm bekommen, dass er sich überhaupt nicht mehr um seinen Sohn kümmert. Er hatte also ein Kind, was hieß, dass er bereits Vater war. René hat mir gesagt, ich soll gehen und nicht wiederkommen, weil er eine Gefahr für mich ist, und er mir bereits so vieles weggenommen hat. Ich bin nach Deutschland zurückgekehrt. Seit dem habe ich ihn nie mehr gesehen."

Manuel sieht mich noch immer an. Keine Sekunde lang hat er den Blick von mir abgewandt. Ich kann es nicht mehr länger zurückhalten. Ich lasse meinen Tränen freien Lauf. Es bricht über mich ein wie ein Tsunami.

Diese ganzen angestauten Gefühle und Sorgen, die ich so lange in mich hineingefressen habe, überkommen mich nun und lassen mich verzweifeln. Manuel sitzt gegenüber von mir und muss darum kämpfen, nicht ebenfalls anfangen zu weinen.

"Und ich jammere dich wegen meiner verpatzten Hochzeit voll. Es tut mir so leid", flüstert Manuel mit schwacher Stimme. Ich schüttle meinen Kopf und sehne mich nach einer Umarmung. Die bekomme ich auch.

Er streicht mir langsam über meinen Rücken; immer im gleichen Rhythmus. Ich beruhige mich allmählich und werde müde. Die letzte Zeit ist so anstrengend gewesen. Manuel gibt ein leises 'Shhh' von sich und seine Hand wandert höher, sodass er sie an meinen Hinterkopf legen kann.

"Ich weiß nicht, was ich tun soll, Manuel", gebe ich von mir, und erschrecke über meine kraftlose Stimme. Er schließt seine Augen und drückt mich noch fester an sich.

"Es wird alles gut." Wenn es nur so einfach wäre, an diese Worte glauben zu können, und die ganzen Zweifel zu ignorieren.

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Hey! :)
Was meint ihr denn, wie es jetzt mit Hannah weitergeht? Ob sie René wirklich vergisst? Oder sehen sie sich wieder? Und was hat es mit Manuel auf sich? In den Kommentaren könnt ihr euch austoben! ;)

Bb, eure Lina_Cel_❤❤

In den Händen meines EntführersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt