46.

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"Die Tickets bitte."

"Ähm, ja hier." Ich bin beeindruckt, wie schnell es gehen kann, dass man aus einem Zug fliegt. Vor unserer Fahrkartenkontrolle ist nämlich ein Mann erwischt worden, der einfach schwarzgefahren ist. Nun kann er einen Batzen Geld bezahlen.

Wir sitzen nun seit drei Stunden im Zug und ich bin hundemüde. Deswegen schlafe ich auch die letzten paar Stunden durch, ohne irgendetwas zu merken.

Als wir zu dritt wieder in Deutschland ankommen, kann ich es gar nicht mehr erwarten, Manuels Gesichtsausdruck zu sehen, wenn er Leyla das erste Mal nach so langer Zeit wieder erblickt.

Doch zuerst bestellen wir uns eine Pizza und essen uns satt. Leyla scheint aufgeregt zu sein. Noch heute soll sie ihn sehen, und sie weiß nicht, worüber sie mit ihm sprechen soll.

Als wir eine Stunde später aufbrechen (ich habe zuvor kontrolliert, ob er auch wirklich daheim ist), höre ich Leylas stockenden Atem. Im Stiegenhaus kommen auch bei mir wieder Erinnerungen hoch, aber ich ignoriere sie einfach. Ich bin schon ein Meister darin.

"Oh mein Gott, ich kann das nicht", stöhnt Leyla leise und sieht mich hilflos an.

"Doch, du machst das jetzt! Meine Mutter und ich gehen jetzt und du läutest. Er ist zu Hause; ich habe schon vorher nachgeschaut." Sie tritt von einem Fuß auf den anderen. Nach einer Mut spendenden Umarmung entfernen Mum und ich uns von der Tür, doch als jemand öffnet, kann ich nicht anders, und muss die beiden beobachten. Mama ist schon hinuntergegangen. Ich spähe durch das Geländer und spüre jetzt schon mein bald einschlafendes Knie.

Als Manuel sieht, wer vor ihm steht, verschlägt es ihm die Sprache. Die beiden starren sich an. Ich merke, dass Leyla weint, als ich ein Schluchzen höre.

"H-Hey, ganz ruhig." Er scheint verwirrt zu sein. "Ähm, komm doch rein." Bevor die Tür ins Schloss fällt, schaut er sich noch um, ob das womöglich ein Scherz sein könnte. Danach setze ich mich auf die Stufe unter mir und stütze das Kinn auf meinen Händen ab. Ich habe getan, was ich tun konnte. Wenn es jetzt nicht zwischen den beiden funkt, kann ich Manuel nicht weiterhelfen. Mich bereits freuend auf mein Bett und auf René verlasse ich das Gebäude und steige in das Auto von Mum.

"Ich bin stolz auf dich, Schätzchen", sagt Mama und schenkt mir ein warmes Lächeln, und ihre Hand streicht über meinen Unterarm. Ich lasse meinen Kopf nach hinten fallen, sodass er an der Stütze anliegt, und schließe dann meine Augen. Zu Hause erwartet mich etwas Schönes. Renés Arme umschließen mich. Im Augenblick könnte ich kaum glücklicher sein. 

"Und?", fragt mein Freund gespannt. Ich nicke.

"Genau kann ich es noch nicht sagen, aber er hat sie nicht weggestoßen. Sie ist in seine Wohnung gegangen, nachdem sie zu heulen begonnen hat."

"Oh. Na ja, ist doch positiv, richtig?" Ich lächle und blicke ihm dann in die Augen.

"Ich hab dich vermisst", flüstere ich und schließe endlich die Lücke zwischen uns. Seine Lippen fühlen sich wie immer rau an. Seine Hände wandern von meinen Oberarmen hinweg zu den Schultern und dann in den Nacken, wo er sie ineinander verschränkt.

Wir lösen unsere Lippen kurz um Luft zu holen, und nur wenige Sekunden sind vergangen, als sie auch schon wieder aufeinander treffen.

Am nächsten Morgen warte ich aufgeregt auf eine Antwort von Manuel oder Leyla. Es vergeht Mittag (René und ich sind in ein Restaurant essen gegangen) und schließlich geht auch der Nachmittag vorüber.

"Boah, ich halte es nicht mehr aus!", rufe ich um halb acht Uhr abends, als René und ich gerade auf der Couch herumlümmeln. "Bitte fahr mich zu Manuels Wohnung." Er sieht mich eine Weile schweigend und nachdenklich an. 

"Willst du nicht auf eine SMS oder so abwarten? Ich meine, vielleicht solltest du nicht so aufdringlich sein. Die zwei brauchen Zeit zu zweit, und wenn du jetzt dort auftauchst, und nachfragst, wie es ihnen geht, kommt das ein wenig ... nun ja, komisch rüber."

Ich lasse mich wieder gegen seine Schulter sinken und seufze. "Aber ich will wissen, was gerade passiert, und wie es den beiden geht."

"Natürlich, Hannah. Das kann ich nachvollziehen, doch du darfst sie nicht stören. Ich bin mir sicher, Leyla meldet sich bei dir, sobald sie Neuigkeiten hat. Ob Gute oder Schlechte. Wie wär's mit Kino, um dich auf andere Gedanken zu bringen?", schlägt René nun vor, und lächelt mich mit dem Lächeln an, das ich so sehr mag. Ich reibe mir über mein Gesicht und stimme dann zu.

"Komm, Schatz." Überrascht bleibe ich stehen, und wundere mich, warum er mich so nennt.

Als er meine Reaktion bemerkt, lacht er. "Was denn? Gib es zu; dir gefällt's!" Ich gebe ihm einen liebevollen Stoß in die Rippen und ziehe dann meine Jacke und die Stiefeletten an.

Als wir unseren Platz im Kinosaal gefunden haben, und ich es geschafft habe, das Popcorn nicht über dem Schoß meines Sitznachbarn zu entleeren, schaue ich mich ein bisschen um, und warte ungeduldig darauf, dass die Lichter ausgehen. Auf einmal entdecke ich ein bekanntes Gesicht. Ich klopfe René in einem ungeduldigen Rhythmus auf die Schulter.

"Was denn?", zischt er. Ich zeige so unauffällig wie möglich in die richtige Richtung.

Als er kapiert, wen ich gemeint habe, grinst er und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

"Du bist ein richtiger Profi darin, Menschen zu verkuppeln."

Dann verschränkt er seine rechte Hand mit meiner linken und so sehen wir uns die ganzen sechsundneunzig Minuten den Film an.

In den Händen meines EntführersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt