02 - Wer schlafende Wölfe weckt ...

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~Mercutio~


Als Aelfric die Treppe herunterkam, sah ich auf. Stirnrunzelnd. Ich hatte es von Anfang an nicht gutgeheißen, ihn zu involvieren, aber Nero hatte insistiert und ich hatte mich gefügt – wie so oft. Trotzdem traute ich diesem hinterlistigen Kobold nicht über den Weg.

„Hast du bekommen, was du wolltest?" Ich erhob mich vom Küchenstuhl. Baute mich auf, während er näherkam. Vielleicht war er ein wenig größer als ich, dafür war mein Kreuz doppelt so breit.

Hochmütig warf er einen Blick durch den Raum, als würde er Nero suchen, obwohl er wissen sollte, dass der heute nicht hier war. „Das wird sich zeigen", sagte er gedehnt, ehe sein Blick wieder zu mir zurückwanderte. „Du kannst es direkt überprüfen. Das würde uns beiden Arbeit ersparen."

Ich nickte. Ja, das würde ich tun. Besser ich als er. „Du wirst bleiben?"

Aelfric schenkte mir ein Lächeln, das viel unschuldiger und freundlicher wirkte, als das Funkeln in seinen Augen mir mitteilte. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Ich unterdrückte ein Knurren.

„Ich denke, nein", säuselte er sanft. „Ich komme morgen wieder."

Ich knirschte mit den Zähnen, doch ich widerstand dem Drang, sie in seine Kehle zu schlagen. Irgendetwas an ihm machte mich fuchsig.

Statt mich zu vergessen und damit die großen Pläne meines Clan-Oberhaupts zu zerstören, griff ich meine Arzttasche und ging hinauf in den Turm, in dem wir unseren wertvollsten Schatz einquartiert hatten.

Die Höflichkeit gebot, dass ich klopfte, ehe ich eintrat.

Keine Antwort.

Ich schloss auf und trat ein.

Das Zimmer war leer, dafür hörte ich aus dem Bad ein eindeutiges Würgen.

Unzufrieden trat ich näher. Wenn dieser Plagegeist sie geschädigt hatte, wäre ich nicht der Einzige, mit dem er Ärger bekommen würde.

Helena saß vor der Toilettenschüssel und wurde ihren Mageninhalt los. Sie sah fertiger aus, als ich gehofft hatte. Ihre schlanke Statur zitterte, das lange, weißblonde Haar hing schlaff herab.

Sie hatte mich offensichtlich noch nicht bemerkt. Stattdessen atmete sie jetzt bebend durch und legte die Wange auf die Toilettenschüssel. Sie war völlig entkräftet.

Ich trat näher, bis ich im offenen Türrahmen stand. Die Tür hatten wir vorsorglich ausgehakt.

Als sie schluchzte, spürte ich Wut in mir aufsteigen. Mühsam drängte ich sie zurück. An Helena sollte ich es nicht auslassen, aus mehreren Gründen, aber vor allem, weil sie eindeutig das Opfer war.

„Wie geht es dir?", fragte ich – und beobachtete, wie sie fürchterlich zusammenfuhr.

Eilig wandte sie sich zu mir um und rutschte von mir weg in die hinterste Ecke des kleinen Bads. Ihre großen, blauen Augen waren vor Schreck geweitet. Sie streckte abwehrend eine Hand in meine Richtung aus.

„Bitte", krächzte sie flehend und schüttelte verzweifelt den Kopf. „T-Tun Sie es nicht, bitte. Nicht noch einmal." Tränen liefen ihr über die geröteten Wangen.

Mit einem Seufzen kam ich auf ihre Höhe: Ich setzte mich im Schneidersitz in den Türrahmen und stellte die Arzttasche sichtbar neben mich. „Das werde ich nicht", versprach ich besänftigend und zog den Reißverschluss der Tasche auf. „Ich bin hier, um zu heilen, was auch immer er angerichtet hat." Wieso es beschönigen? Wir wussten beide, was passiert war. Nur weil es abgesprochen gewesen war, musste ich das nicht gutheißen.

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