Kapitel 4.

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Der große gelbe Bus kam zu früh, zumindest aus rein zeitlicher Perspektive betrachtet.
Hätte man jedoch die Betreuer gefragt, wären sie fast einstimmig der Meinung gewesen, der Bus hätte gerne noch viel früher vorbeifahren können.

Viele der Jüngeren waren bereits von ihren Eltern in kleinen, blassen Autos abgeholt worden. Die, die noch übrig geblieben waren mussten allerdings in den nach Käse, Schweiß und Kaugummi stinkenden Bus steigen.

„Aber ich will noch nicht we-he-heg!", heulte Lissy, während Pippa mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht (Wie viel Kram kann die denn dabeihaben?! War sie täglich Steine sammeln?) den Koffer des Mädchens in den Bus hob.

Amber stand deutlich Abseits von dem Haufen, bestehend aus Tränen, Koffern und aufkeimender Ungeduld, und lehnte mit verschränkten Armen an einem rauen Baumstamm. Hinter ihr begann jemand betont langsam zu klatschen. „Hallo Sage.", sagte Amber laut, als die Quelle des abfälligen Applauses in ihr Blickfeld trat. „Und, wie viele Kinder hast du schon zum weinen gebracht?"

„Es scheint, als würde dein kaputtes Gehirn schon wieder deine süßen Eigenschaften auf andere Leute übertragen.", entgegnete Sage mit vor Zucker verklebter Stimme.

Amber schoss die übliche Röte in die Wangen, die Farbe der Wut, die allein schon der Klang von Sages Stimme bei ihr auslöste: „Pass auf! Wir könnten dich jederzeit zu fall bringen." Sage hob amüsiert die perfekt gezupften Augenbrauen: „Mehrere Teile deines Satzes verwirren mich: „Wir"?! Welcher Idiot würde – Ach, entschuldige. Ich vergaß, dass Scary Scarlett noch existiert. Wie geht es ihr? Immer noch besessen von -"
„Ihr geht es großartig, danke der Nachfrage. Auch wenn sie es bevorzugt, nicht in der dritten Person von sich selbst zu sprechen.", sagte Scarlett und lehnte sich neben Amber an einen der Bäume. „Aber genug von mir: Wie läuft es mit Cooper?" Sages Ohren wurden kalkweiß. „Oh, entschuldige: Dein Freund hieß doch Asher, richtig?"

Sage schob gekonnt beiläufig ihr dichtes Haar vor ihre Ohren, wobei ihr rechter Ärmel hochrutschte. Sage trug in diesem Sommer oft langärmige Shirts. Das tat sie nicht etwa, weil sie fror; an ihrem rechten Unterarm prangte eine beeindruckend lange Narbe, deren Ursprung (fast) niemand kannte: „Scarlett, wir haben uns ja schon ewig nicht mehr unterhalten. Wie kam es zu dieser Funkstille?"

„Oh, das ist einfach: Ich wollte nicht mit dir reden. Danach habe ich einfach immer so schlechte Laune.", antwortete Scarlett ehrlich. Sage schnaubte: „Ihr haltet euch wohl für unglaublich krass, oder? Aber denkt bitte daran, dass ihr nichts seid. Niemand."

„Wenn ich niemand bin, wieso habe ich dann einen dermaßen originellen Spitznamen? Ich meine „Scary Scarlett"?! Das ist doch ein absoluter Geniestreich!", meinte Scarlett, versteckte den Sarkasmus in ihrer Stimme zu ungefähr einem Drittel hinter aufgesetzter Neugier.

„Du hast den Namen, weil du ein Loser bist.", meinte Sage gehässig, doch selbst ihr war klar, wie leer der Satz klang. Während Scarlett allerdings nur unbeeindruckt die Augenbrauen hob, war Amber wie vom Skorpion gestochen: „Du hast doch keine Ahnung! Ich an deiner Stell hätte Angst! Denn meine beste Freundin hier weiß alles über dich. Sie kennt dein kleines Geheimnis und kann es jederzeit -"

„Amber, wenn du jetzt nicht aufhörst zu sprechen ramme ich dir mein Messer zwischen die Rippen, und es ist mir egal, wenn mich das zur Verräterin macht.", zischte Scarlett leise, während sie ihre Freundin zurückzog, die während ihrer kleinen Ansprache gefährlich nahe an Sage herangetreten war.

Sage betrachtete, anscheinend gelangweilt, ihre Fingernägel: „Dass Scarlett ein bisschen creepy ist, wissen wir alle -"

„Okay, wieso reden wir eigentlich andauernd über mich? Ich wollte nur kurz Hi sagen, bevor Amber explodiert!"

„- aber ihr solltet wissen, dass ihr vielleicht Worte habt, mit denen ihr mich „zu Fall" bringen könntet, wie du eben so schön gesagt hast, Amber, aber ich habe Taten, mit denen ich euch buchstäblich „zerstören" kann."

„Ist das eine Drohung?", fragte Amber spöttisch und trat, ohne es überhaupt zu bemerken, schon wieder einen Schritt vor, bevor Scarlett sie reflexartig wieder zurückzog. Sage lächelte ihr in Honig getränktes Lächeln und kam langsam auf sie zu, bevor sie gerade noch laut genug „Ja" hauchte. Ambers Kiefer begann zu zittern.
„Okay, also wir sind tot, gut zu wissen.", sagte Scarlett und wandte sich dann Amber zu. „Wir sehen uns dann im nächsten Leben wieder, ich muss mich noch kurz von Henrietta verabschieden!" Und mit diesen Worten verschwand sie in die Richtung des Menschenhaufen, der immer noch vor dem Bus stand.

„Na dann: Pass auf dich auf, Süße!", verabschiede sich auch Sage und winkte ihr mit einer Hand zu, indem sie mehrmals hintereinander die Finger einknickte, als wäre sie zu cool oder zu müde für das übliche Winken. „Fick dich.", murmelte Amber wütend und wünschte sich nicht zum ersten Mal, Sage Marino einfach umbringen zu können, dann zu reanimieren und schließlich bei lebendigem Leibe zu vergraben.


The curse above usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt