„Kennst du das Ritual?"
Amber sah Sam überrascht an – sie hatte sie nicht für ein Mädchen gehalten, dass sich für diese Art von Schwachsinn interessierte: „Was für ein Ritual?"
Sie bemerkte nicht, dass Mantha neben ihr zusammenzuckte und Sam alarmiert ansah, in dem Versuch, sie mithilfe ihres (harmlosen) Blicks zum Schweigen zu bringen. Doch Sam, die ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Amber gerichtet hatte, konnte (und wollte) das nicht sehen.
„Na, das Ritual halt. Die Legende des Bluttausches?" Amber, die eher etwas anderes erwartet hatte, verzog das Gesicht: „Bluttausch? Was soll das denn sein? Holen die Blut aus dir heraus und denken sich dann so "Hey, lass mal Blutgruppe mit der Person dahinten tauschen!"?"
„Mantha, erzähl die Legende!", forderte Sam von ihrer Freundin. Mantha zitterte: „Lieber nicht."
Sam zog die Augenbrauen zusammen (Was ist los mit dir? Du hast diese Geschichte doch letztes Jahr andauernd erzählt, wieso hältst du ausgerechnet jetzt die Klappe und hast mich dann so lange mit dem gleichen Gelaber genervt?): „Wieso nicht? Du kannst die doch auswendig!"
„Ja, aber -", Mantha stoppte. Sam war stur, trat ohne Zögern für die Rechte ihrer Mitmenschen und ihrer selbst ein, aber leider hatte sie das Einfühlungsvermögen eines moosbewachsenen Baumstumpfs; Sam würde die subtilen (und absolut übersehbaren) Hinweise, die sie versuchte, ihr zu geben, nicht verstehen. Ganz im Gegenteil: Sie würde noch härter dafür kämpfen, dass Mantha endlich die verdammte Legende erzählte, denn Sam hatte ein miserables Gedächtnis und hatte sich trotz der mehrfachen Wiederholungen nur wenige Schlagworte der Bluttausch-Legende merken können. Also änderte Mantha ihre Strategie: „... nein. Sorry, ich ... ich hatte so viel im Kopf in letzter Zeit und die Französischvokabeln haben dann irgendwie alles verdrängt -"
Sam verdrehte die Augen: „Perfektes Timing, Mantha. Wirklich, bravo!" Mantha lachte nervös, Amber sah verwirrt von einer zur anderen und blieb dann bei Sam hängen: „Wieso erzählst du sie nicht einfach? Wenn Mantha sie doch so oft erzählt hat?"
Sam, die lieber von einem Hai für eine Robbe gehalten werden würde, als eine Schwäche zuzugeben, wurde knallrot und kratzte sich am roten Hals: „O-okay. Klar."
Sie sah wütend zu Mantha, die nur unschuldig mit den Schultern zuckte, bevor sie zu reden begann: „Also, da war einfach ... da war ein Mädchen. Sie war (Es, Sam. Mrs Indigo hat dir so oft gesagt, dass du an deiner Grammatik arbeiten sollst!) sechszehn Jahre alt. Damals war hier noch kein Sommercamp oder so, oder ... ist ja auch egal. Jedenfalls entstand damals das Gerücht, dass es einen Baum im Wald gäbe, der der Person (Falsch, Sam. Es gilt nur für Mädchen, nicht für alle Personen. Bei Jungs dachte der Baum wohl, die Gefahr wäre zu hoch, dass sie sich versehentlich selbst umbringen würden), die sich mithilfe ihres Blutes mit der Rinde verband, Vergeltung schenkte. Oder so ... ähm ... auf jeden Fall ging dieses Mädchen aus irgendeinem Grund zu dem Baum, ritzte sich die Hand auf und presste sie an den Stamm. Dann wurde plötzlich alles besser, sie bekam alles, was sie sich schon immer gewünscht hatte (Mein Gott, wie falsch willst du das eigentlich erzählen?!). Ihr Leben wurde besser – bis auch der Baum seine Vergeltung verlangte (Schwirren eigentlich schon Fliegen um den Mist herum, den du gerade erzählst?) ... er brachte plötzlich Leute um. Das Mädchen war so traurig, dass sie auf die Gleise im Wald lief und dort zusammensackte – doch dann fuhr ein Zug vorbei und sie ...", Sam unterbrach sich in dem mühsamen Versuch, wenigstens ein bisschen Dramatik in ihre Erzählung zu bringen und sah Amber mit schwerem Blick an. „...sie starb."
Mantha seufzte und wünschte sich fast, sie hätte die Legende des Bluttausches selbst erzählt, damit Sam die Geschichte nicht dank ihres miesen Erinnerungsvermögens dermaßen in den Dreck ziehen konnte (Sie hat gar nicht erzählt, wieso es Bluttausch heißt, oder? Sam, du hast quasi die Essenz der Geschichte vergessen, du Hirni!). Doch Amber war hin und weg: „Sie bekam Vergeltung?"
Sam nickte langsam, immer noch mit diesem angestrengt bedeutungsschweren Blick: „Oh ja. Und es war besser als die beste Rache." Was Mantha jetzt sah, war der Grund, wieso sie die Legende nicht hatte erzählen wollen; Ambers Augen fingen an zu glitzern und Mantha wusste sofort zu einhundert Prozent, was ihr nächster Satz sein würde.
„Lass es uns machen."
„Was? Zum Baum gehen und unsere Hände aufschlitzen?!", fragte Mantha entsetzt. „Weißt du, eigentlich -"
„Wieso nicht?", unterbrach sie Sam. „Wie-so-nicht?!" (Dadurch, dass du das Wort trennst, wird es nicht besonderer)
„Wir haben doch keine Ahnung, wo der Baum ist!"
„Wir finden ihn garantiert, wenn er doch so besonders ist – besondere Dinge findet man immer, wenn man sie finden soll. Und ich habe das Gefühl, dass wir den Baum finden sollen. Sollen und werden.", widersprach Amber, immer noch mit diesem fanatischen Ausdruck in den braunen Augen.„Das ist Schwachsinn!"
„Halt die Klappe, Mantha.", sagte Sam. „Das wäre doch ein spannender Ausflug. Du warst ein so krasses Fangirl der Bluttausch-Legende, es muss doch wie Weihnachten für dich sein, wenn wir der Geschichte auf den Kern gehen (Grund)!"
„Es ist keine Geschichte, der man auf den (verdammten) Grund gehen möchte!", zischte Mantha und riss die Augen auf, in der Hoffnung, Sam möge doch endlich die Warnung in ihrem Gesicht lesen. Doch Sam konnte schon die Buchstaben in den Schulbüchern immer erst dann lesen, wenn ihre Augen mit ihrer Brille unterstützt wurden – um Gesichtsausdrücke lesen zu können, würde sie noch weitaus mehr Hilfe benötigen, als nur konvexes Glas.
„Mantha, ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was eigentlich dein Problem ist. Du kannst dich doch gar nicht mehr an die Geschichte erinnern, also wieso spielst du dich jetzt so auf?", fragte Amber und sowohl Sam als auch Mantha sahen sie argwöhnisch an. Das hier war eher etwas zwischen ihnen beiden gewesen, wieso mischte Amber sich jetzt ein? Doch Mantha traute sich nicht den Mund aufzumachen, und Sam wollte Amber aus irgendeinem Grund imponieren, also beschwerte sich keine von ihnen.
„Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder, du gehst mit uns und suchst den Baum, oder du bleibst hier.", verkündete Amber entschlossen und Mantha fühlte sich sofort ausgeschlossen. Was war eigentlich Ambers Problem? Sie drängte sich zwischen Sam und sie und zwar so brutal wie ein Panzer. Mantha musste mitgehen, sonst würde sie sich nur weiter von Sam entfernen und das war das letzte, was sie wollte, wenn -
„Ich bleibe hier."
War das ihre Stimme gewesen? Sams Gesichtszüge entgleisten für einen kurzen Moment und Mantha meinte sogar, so etwas wie ehrliche Trauer darin erkennen zu können, aber ausgerechnet jetzt hielt Sam, die schon so oft zuvor im entscheidenden Moment zu ihr gehalten hatte, den Mund und ging schulterzuckend hinter Amber, die ohne Verabschiedung in eine beliebige Richtung losgestapft war, her.
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The curse above us
Horror„WILLKOMMEN IN CAMP GREENWITCH" Es ist doch nur ein Sommercamp. (Aber wieso klebt dann solche Furcht an den Holzhütten?) Es sind doch nur ein paar Jugendliche. (Aber wer soll sonst die Katze ermordet haben?) Es ist doch nur ein Schauermärchen. (Ab...