Kapitel 2.

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Grayson saß theoretisch gesehen neben Scarlett auf der rauen Steinmauer. Zwischen ihnen war schließlich nichts außer zwei Meter freiem Raum und einem winzigen Marienkäfer, der sich anscheinend auf der Mauer sonnte, aber bei solchen Szenarien zählen Marienkäfer nicht.

„Und, was hältst du vom Kindercamp?", fragte Scarlett schließlich, die schon seit fast fünf Minuten überlegte, wie sie den ersten Satz einigermaßen unverfänglich gestalten konnte, und brach damit die abwartende Stille zwischen ihnen.

Grayson drehte den Kopf in ihre Richtung: „Es ist ... laut."

„Laut?"

„Irgendjemand schreit oder weint immer."

„Na ja, aber das ist bei Jugendlichen doch nicht viel anders.", meinte Scarlett. „Pubertät ist etwas, was von vielen stark unterschätzt wird!"

„Aber Jugendliche setzten sich nicht mehr auf den Boden vor dich und fangen an zu weinen, weil Henrietta ihnen Apfelsaft auf die Bluse gekippt hat."

„Ich dachte, es war Orangensaft?"

„Es war Apfelsaft. Ich musste die Bluse auswaschen, deshalb bin ich mir was das betrifft ziemlich sicher."

„Ernsthaft?!"

„Es waren keine Betreuer da, keine Ahnung, wo die eigentlich immer stecken und er fing an, sich Erde ins Gesicht zu schmieren. Ich musste irgendetwas machen."

„Oh Gott.", lachte Scarlett. Ihr Lachen verklang und und das endlich enstandene Gespräch drohte so zu sterben, wie der Vogel, neben dem Amber immer noch viele Meter von ihnen entfernt stand -

„Aber wieso kippt Henrietta alles auf andere Kinder? Ich meine, ist das immer ein Versehen, oder ist sie einfach der Saftteufel höchstpersönlich?", sagte Grayson.

„Beides ist möglich. Aber ihr Gesicht sieht immer so gemein aus, deshalb glaube ich fast an die Saftteufeltheorie.", erwiderte Scarlett und sah wieder in Graysons Richtung, wo ihr Blick überraschenderweise seinen traf und ihr Gehirn dazu brachte, ihr nur noch ungefähr ein Viertel ihres Wortschatzes zur Verfügung zu stellen. „Wie kann ein Gesicht-"

„Scarlett!", rief Amber plötzlich dicht neben ihrem Ohr und schlug herzlich und fest auf ihre Schulter, (Nicht jetzt. Bitte, nicht jetzt!) wodurch Scarlett fast von der Mauer fiel. „Ich habe viel zu erzählen, aber zuerst: Hey Grayson – hier ist das Revier der Grünen, also verzieh dich!" Grayson zog unbeeindruckt beide Augenbrauen hoch: „Das Revier der Grünen?"

„Ganz genau, Mister-", Scarlett verwandelte ihr Lachen schnell in ein Räuspern, denn Amber hasste nichts mehr als Leute, die sich über die Sachen lustig machten, die sie voller (blinder) Wut von sich gab, „Wenn die Winzlinge weg sind beginnt wieder die Campiade und du bist im falschen Team!"

„Die Campiade?", fragte Grayson, eher belustigt als verwirrt.

„Camp-Olympiade. Die Sache mit den Teams und den Spielen. Du weißt schon, Grün gegen Orange.", erklärte Scarlett leise. „Ach, du meinst den Campkrieg!", meinte Grayson.
Amber sah aus, als wollte sie ihn am liebsten erwürgten: „Campkrieg?! Noch ein Zeichen dafür, dass du im falschen fucking Team bist! Also geh doch, häng mit deinen orangefarbenen Promkönigsfreunden ab, bevor wir dir das Leid zufügen, was dein Team und zugefügt hat!"

„Sonst sperren wir dich mit Henriette in eine sehr enge Besenkammer, sobald wir eine sehr enge Besenkammer finden.", ergänzte Scarlett, bemüht ernst. Graysons Mundwinkel zuckten, was Amber sofort als persönliche Beleidigung auffasste. Doch bevor sie ein weiteres Mal gegen ihn wettern konnte, sprang Grayson schnell von der Mauer, lief über die Wiese und verschwand hinter der nächsten Hütte.

„Was wollte der denn von uns?! (Uns?! Ernsthaft, Amber?) Ganz ehrlich, Sages Leute fangen an, viel zu nah an mich heran zu kommen!"

„Grayson ist keiner von Sages Prügeltypen."

„Ach ja?! Du hast die Listen gesehen, Scary, Grayson ist in Team Orange. Das sagt alles, was man wissen muss!", für Amber war dieses Thema damit vorerst beendet, sie schlug das rechte Bein über das Linke und blinzelte zur Sonne. „Eben ist ein Vogel gegen die frisch geputzte Glasscheibe von der Wolkenhütte geflogen. Kennst du Lissy?"

„Wen?"

„Klein, hat mehr Sommersprossen als Haut?"

„Ach so, du meinst Lissja."

„Nein, Lissy. Wie auch immer; sie wollte den toten Vogel da auf dem Boden liegen lassen und als Pippa ihr dann endlich klarmachen konnte, dass er aber dort verrotten und nicht zurück unter uns Lebende kehren würde, wollte sie ihn stattdessen über ihr Bett hängen, damit er für immer in ihrem Herzen weiterlebt.", Amber erschauderte. „Allein die Vorstellung ..."

„Ein kleines Mädchen mit totem Vogel als Plüschtierersatz.", murmelte Scarlett. „Ich glaube, ihre Eltern würden sie nächstes Jahr dann garantiert wieder ins Greenwitch Kindercamp schicken!"

Amber lachte und fuhr sich durch das dichte Haar: „Aber das ist immer noch nicht das, was ich erzählen wollte: Morgen Abend veranstalten die Betreuer eine Art Party, weil wir dann das Kindercamp alle offiziell überstanden haben."

„Und das heißt ...?"

„Wir gehen da hin!"

„Nein."

„Komm schon, Scarlett! Das wird super! Pippa hat erzählt, dass sie am Waldrand Lichterketten aufhängen! Und es gibt Würstchen und Stockbrot und Marshmallows ... es wird keine Highschoolparty, das schwöre ich, sondern eine richtige Campparty!", Amber stoppte ihren Redefluss und sah ihre so ziemlich einzige Freundin gespannt an. Scarlett zögerte: „Was, wenn Sages Killer da sind?"

„Dann laufen wir rechtzeitig weg! Das haben wir doch wirklich schon oft geschafft."
Scarlett biss sich unschlüssig in die Wange und ließ ihren Blick über das vor ihr liegende Gelände schweifen, den dichten Wald, die fast ausgetrocknete Wiese, die sich genauso stark wie sie nach Regen sehnte, die vielen kleinen Holzhütten und natürlich die Kinder und Jugendlichen, die wild herumwuselten und allen zeigten, wie sehr sie den Sommer genossen.

„Okay. Lass uns hingehen.", meinte Scarlett zögernd. „Aber du versprichst, nichts dummes zu machen!" Amber, die begeistert in die Hände geklatscht hatte, verzog jetzt das Gesicht zu einer ernsten Grimasse: „Ich verspreche es. Wir halten uns einfach von allen Orangen fern und genießen den Abend!"


The curse above usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt