Kapitel 1.

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Der Vogel war tot.

Der mit braunen Federn überzogene Körper lag schwer auf dem staubigen Boden, die feinen Flügel standen grotesk von ihm ab. Es war wirklich kein besonders schöner Anblick.

„Ist er ... tot?", fragte die kleine Lissy McMillan zaghaft und flüsterte das letzte Wort, als wäre es ein Geheimnis, von dem eigentlich niemand wissen durfte. 

(Natürlich ist er tot, oder glaubst du, das Tier liegt freiwillig so auf dem Boden?!), dachte Amber grimmig und wandte sich dann mit mitfühlender Miene dem Mädchen zu: „Das können wir nicht sicher sagen. Aber ja; vermutlich weilt er nicht mehr unter uns." 

Lissy schlug sich die stummeligen Finger vor das runde Gesicht und schluchzte herzerweichend: „Glaubst du, er war alt?" (Definitiv nicht) „Auf jeden Fall.", log Amber und fuhr ihr über das dünne hellblonde Haar. 

„Gut.", seufzte Lissy und kniete sich dann auf die trockene Erde, nur knapp neben den leblosen Vogel. Vorsichtig steckte sie die winzige Hand aus, als wolle sie die Vogelleiche streicheln. „Mach das nicht.", sagte Amber, scharfer als beabsichtigt, und fuhr dann mit sanfter Stimme fort: „Vielleicht war er schwerkrank und dann könntest du dich anstecken."

„Oh. Ist er an der Krankheit gestorben?"
„Lissy, wir haben gerade alle gesehen wie der (dumme) Vogel mit Karacho gegen das Fenster geflogen ist!" Lissy sah mit großen Augen zu ihr hoch: „Also es war wirklich, weil er krank war?"

Amber schloss ungeduldig die Augen und fragte sich unwillkürlich, ob sie in Lissys Alter genauso begriffsstutzig gewesen war: „Ja, auch das könnte sehr gut sein!"

Lissy nickte wissend, als hätte sie soeben einen besonders kniffligen Kriminalfall mit einem einzige Satz gelöst, musterte den Vogel kurz, richtete sich dann wieder auf und winkte der jungen Frau zu, die mit schnellen Schritten von der Wiese aus auf sie zukam.

„Wo warst du so lange?", zischte Amber der älteren Campbetreuerin mit dem ordentlich gebundenen Pferdeschwanz zu. Keine einzige Haarsträhne schien auch nur in Erwägung zu ziehen, aus der perfekten Reihe zu tanzen. „Tut mir leid Amber, aber tote Vögel einzusammeln ist nicht der oberste Punkt auf meiner Prioritätenliste.", antwortete Pippa scharf.
„Und was ist dann Punkt Nummero uno?!"

„Der kleine Bruder von Sage (verdammt, wieso kann ich mir nie merken wie der mit Vornamen heißt?!) hatte sich eine blutige Nase bei einer Prügelei eingefangen und erst nach vielen, sehr langen Minuten stellte sich heraus, dass der jammernde kleine Mr. Dawson den Streit selbst angezettelt und quasi komplett zu verschulden hatte. Aber erklär das mal einem heulenden Jungen, der daran gewohnt ist, mithilfe von Tränen alles zu bekommen, was er möchte.", erzählte Pippa und seufzte laut und leidend, als sie ihre kurze Erzählung beendet hatte. „Das Camp sollte für Kinder unter 13 wirklich geschlossen werden. Oder sie sollten uns älteren immerhin den Alkoholverzehr erlauben."

Amber klopfte ihr mitfühlend auf die breite Schulter: „Sie reisen morgen ab. Dann wird alles besser."

Erleichterung schimmerte in Pippas Augen auf, denn dass das diesjährige Kindercamp schon nach einer Woche enden würde, hatte sie ganz vergessen. Danach würde ihr Wunsch endlich in Erfüllung gehen und die restlichen zwei Wochen würde sie nur noch Jugendliche betreuen müssen, die nicht versehentlich in den See fielen. Zumindest nicht in der Masse, wie die jüngeren es täglich getan hatten.

„Pippa, der Vogel ist tot.", flüsterte Lissy und ließ ihr letztes Wort wieder in der Luft verschwinden.

„Das sehe ich ... (Okay, deinen Namen kann ich wohl auch nicht) Lissy?" Amber nickte unauffällig und versuchte dabei nicht einmal, ihr breites Grinsen zu verbergen. Pippa seufzte wieder, dieses Mal vor Erleichterung: „Lissy! Dann schaffen wir den Vogel mal weg!" Doch das wollte Lissy nicht und bald schon erklärte sie laut heulend, wieso der Vogel hier liegen bleiben musste, während Pippa ihr bemüht geduldig und auf dem Boden kniend, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein, zuhörte. 

„Gott sei Dank bin ich keine Betreuerin.", flüsterte Amber Pippa schadenfroh lächelnd zu, während Lissy ganze Wasserfälle hochwürgte. „Halt die Klappe, es wird gut bezahlt.", erwiderte Pippa und versuchte ein wenig hilflos, dem weinenden Mädchen ein Taschentuch in die Faust zu drücken.

The curse above usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt