Tom und Motte - Kurzgeschichten im Microformat

Frischluft

„Wir sitzen seit Stunden vorm Bildschirm und zocken. Meinst du, wir sollten mal bisschen an die frische Luft?" Tom hält den Controller fest im Griff und lenkt seinen Super-Mario-Kart durch seichtes Wasser zurück auf die Fahrspur.
„Eine Überlegung wäre es wert", sagt Motte und überholt mit seinem Mobil ein Wägelchen mit Schildkröte an Board. „Frischluft soll ja sehr bekömmlich sein."
„Ist mir auch schon zu Ohren gekommen. Also, bist du dabei?"
„Du hast manchmal echt schräge Ideen." Motte schüttelt den Kopf und steuert seinen Kart als erster ins Ziel.
„Es wird uns sicherlich guttun." Toms Vehikel fährt als letztes über die Ziellinie.
„Na gut."
Also legen die beiden ihre Controller zu Seite, richten ihre Rücken auf, stemmen die Hände auf die Knie und erheben sich vom Sofa. Ein klebriges Geräusch erklingt, als würde sich ein Pflaster von der Haut lösen.
Mit festen Schritten und ausladenden Armbewegungen verlassen die beiden Männer das Wohnzimmer, schreiten durch den Flur und erreichen schließlich die Küche, die auf den Innenhof hinausgeht. Mit ernsten Mienen nicken sie sich zu, warten kurz und reißen dann beide Fenster auf, perfekt aufeinander abgestimmt wie ein Turmspringduo, das Gold gewinnen will und auch kann.
„Frischluft!", ruft Tom energisch.
„Nur nicht sehr frisch!" Motte rümpft die Nase. Abgase wehen zu ihnen hinauf, denn irgendwer repariert im Hinterhof ein Motorrad und lässt den Motor laufen. Dazu gesellen sich die Ausdünstungen des Bioabfalls, der seit Tagen in der Sonne gärt (was dabei herauskommt, ist sicherlich ein Fall für angstfreie Virenforscher). Obendrein weht aus dem zweiten Stock eine Geruchsprobe von Frau Löfflers Lieblingsdesinfektionsmittel herein, die sich mit einem angebrannten Braten von Herrn Bart aus Stock drei vermischt.
„Riecht", sagt Tom.
„Reicht", sagt Motte, verlässt die Küche, lässt sich aufs Sofa fallen und starrt auf den Bildschirm. „Hey, sieh mal!", ruft er. „Hier gibt es eine Dschungel-Simulation, bei der man Baumhäuser bauen kann."
„Bin dabei!" Tom schlägt beide Küchenfenster wieder zu und gesellt sich zu seinem Freund auf die Couch.