Duftmarken

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„Warum machen wir das gleich noch mal?", fragt Motte und blickt das Elbufer entlang. Die Sonne ist erst seit Kurzem aufgegangen und über den Wiesen hängt ein Dunstschleier, als hätte jemand die Nebelmaschine für einen besonders liebevollen Lovesong angeworfen. Es ist kalt, aber nicht kalt genug, um Motte wach zu halten. Immer wieder fallen seine Augenlider zu, als würde er von einer magischen Melodie in den Schlaf gesäuselt.
Tom hebt mit einem Abfallgreifer eine zerrissene Chipstüte auf und wirft sie in einen Müllbeutel, der ein wenig entfernt am Elbufer steht. „Wir säubern die Elbwiesen, weil's wichtig und richtig ist!"
„Aber warum müssen wir ausgerechnet 9 Uhr morgens unser Herz für die Natur entdecken. Der Krempel liegt auch 12 Uhr noch herum."
„Eben nicht, dann haben ihn die anderen Helfer schon aufgesammelt." Tom deutet auf all die anderen Menschen, die bei der Elbwiesenreinigung mit anpacken.
„Noch ein Grund 12 Uhr anzufangen."
„Es ist nicht mal unser Zeug", beschwert sich Maggie, die tatenlos herumsteht und mit ihrer Kamera die Umgebung scannt. „Und in einer Woche sieht's wieder genauso aus. Ihr setzt eure Duftmarken echt überall."
Tom schaut seine Mitstreiter flehend an. „Wir müssen das machen! Ich habe hier vorgestern eine Plastikflasche verloren und nun ein unheimlich schlechtes Gewissen."
„Ich kaufe dir gern eine neue", sagt Maggie.
„Darum geht's doch nicht. Na kommt schon. Einen Sack voll und dann stiefeln wir wieder nach Hause!"
Motte nickt zögerlich. Dann rollt Maggie los und greift beherzt zu. „Fertig", ruft sie wenige Minuten später. „Fertig wie ein ausgepacktes und aufgewärmtes Fertigessen in der fantastisch praktischen Folienschale. Lasst uns gehen und Faultiervideos angucken!"
Beeindruckt sieht Tom sie an. „Das ging ja fix. Aber, Moment mal, du hast ja nur Blätter und Steine und Gras gesammelt. Das ist Natur!"
„Ach was, du engstirniger Kategorieapostel! Alles ist Natur! Mal mehr und mal weniger fortschrittlich!"
„Und mal mehr und mal weniger verzwickt. Wir sammeln alles, was Flora und Fauna piesackt." Tom schüttelt den Kopf und schüttet den Sack wieder aus.
Dann beginnt er gammeliges Grillzubehör, Dosen, Stoffschnipsel und Plastikfetzen in seinen Müllbeutel zu stopfen, während die anderen beiden tatenlos herumstehen. Plötzlich hält er inne. „Wow, seht mal! Ich hab unter diesem undefinierbaren Unratüberbleibsel, das ich selbstverständlich aufgelesen und in den Abfallsack getan habe, einen Zehn-Euro-Schein gefunden."
Motte und der Abwaschroboter eilen herbei.
„Cool, damit könnte man vier Kaffee im praktischen Einweg-Thermobecher kaufen", sagt Motte.
„Dann haben wir noch mehr für den Abfallbeutel", freut sich Maggie. Und schon laufen die beiden los, schauen nach kleinen Schätzen und entsorgen nebenbei Müll.
Tom grinst, steckt sein Portmonee, aus dem er gerade 10 Euro genommen hat, wieder in die Hosentasche und liest mit seinem Abfallgreifer eine Plastikflasche auf.
„Hab ich dich", ruft er erleichtert und stopft sie in den Müllbeutel.

Tom und Motte - Kurzgeschichten im MicroformatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt