Kapitel 1 - Ruhe vor dem Sturm

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Meine Finger tanzten über die Tastatur meines Laptops, das beständige Klackern der Tasten war längst zu einem vertrauten Begleiter geworden – so sehr, dass es mich sogar in meinen Träumen verfolgte. Meine Mitbewohner warfen mir mittlerweile genervte Blicke zu, wenn ich mal wieder am Küchentisch saß und mit einer fast schon fieberhaften Energie in die Tasten hämmerte, als hinge das Schicksal der Welt davon ab. Doch ich wusste, das Ende war in Sicht. Noch dieses eine letzte Semester und die Master-Arbeit, dann würde ich das Studentenleben endgültig hinter mir lassen.

Nicht, dass ich die Zeit als Studentin nicht genossen hätte – ganz im Gegenteil. Ich hatte sie in vollen Zügen ausgekostet: Ich hatte bis spät in die Nacht gelernt, war auf Tinder-Dates gegangen, hatte wilde Partynächte erlebt und hier und da Beziehungen geführt, die jedoch nie von Dauer waren. Doch das störte mich nicht. Diese Jahre hatten mir alles geboten, was ich mir erhofft hatte – Spaß, Freiheit und eine Unbeschwertheit, die ich nicht missen wollte.

Aber nun war es Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.

Mein Zeigefinger verharrte einen Moment in der Luft, als mir plötzlich bewusst wurde: Dieser eine Punkt würde das letzte Zeichen meiner Masterarbeit sein. Mit einem tiefen Atemzug und fast wie in Zeitlupe drückte ich auf die Taste – und da war er. Der Punkt, der alles abschloss. Ein überwältigendes Gefühl durchströmte mich, und bevor ich es richtig realisieren konnte, stieß ich einen spitzen Freudenschrei aus und sprang euphorisch vom Stuhl. Der kippte mit einem lauten Krachen nach hinten um. Noch ehe der Schall verklungen war, erschien jemand im Türrahmen meines Zimmers und schaute mich verwirrt an. Anscheinend war mein Quieken in einen jubelnden Aufschrei übergegangen, der die halbe WG aufgeschreckt hatte.

"Was zum Teufel?", fragte mich Helen, während ich einen kleinen Tanz aufführte.

"Sie ist fertig", erklärte ich freudig. Ein Strahlen bildete sich auf dem Gesicht meiner besten Freundin.

"No fucking way!", rief sie aus und fing ebenfalls an, wie eine Verrückte hin und her zu hüpfen. Nun war auch Adrian in meinem Zimmer erschienen und schaute uns mit einem teils skeptischen und teils verwirrten Blick an.

"Was zum Henker treibt ihr da? Wisst ihr wie viel Uhr es ist?", fragte er genervt und rieb sich die Augen. Tatsächlich hatte ich beim Schreiben komplett die Zeit vergessen. Mein Blick wanderte zu meinem Laptop, der die Uhrzeit klein im rechten Eck anzeigte: 1 Uhr nachts.

"Die Nachbarn freuen sich", murmelte Adrian bloß.

"Elly hat ihre Masterarbeit fertig, Adrian!", rief Helen aufgeregt, hörte jedoch tatsächlich auf zu hüpfen. Auch ich hörte auf zu tanzen, denn auf einmal überkam mich die Müdigkeit.

Adrian rieb sich die Augen.

"Ganz toll!", murmelte er und wollte wieder zurück in sein Bett kriechen, aber Helen hatte andere Pläne. Obwohl ich auch lieber schlafen gegangen wäre, wusste ich, dass wir das lieber gebührend feiern sollten.

Ein Gähnen huschte über meine Lippen.

"Kommt schon, Leute. Ihr könnt jetzt nicht schlafen gehen! Seid ihr 80?", Helen verschränkte die Arme vor der Brust.

"Wir gehen aus!", fügte sie dann freudig hinzu, klatschte in die Hände und verschwand in ihrem eigenen Zimmer, bevor einer von uns reagieren konnte.

"Echt jetzt?", fragte Adrian mit gequältem Gesichtsausdruck.

Ich zuckte mit den Schultern, während ich antwortete:"Du kennst sie doch. Wenn sie einen Grund zum Feiern hat, ist sie nicht mehr aufzuhalten".

Ein Schmunzeln legte sich auf Adrians Lippen, dass ich ebenfalls erwiderte.

"Na gut", sagte er und fuhr sich durch die hellbraunen Haare, ehe er ebenfalls in sein Zimmer verschwand.

Eine halbe Stunde später, saßen wir eingekleidet und fertig gemacht in der Tube auf dem Weg zum Underworld, einem etwas alternativerem Club, der auch mal Rock, Indie oder Elektro spielte.

Helen hatte sich für eine schwarze Hose entschieden, die locker auf ihren Hüftknochen saß und trug ein kurzes Top mit einem Schmetterling in der Mitte. Es sah hammer aus an ihr. Ich mochte weitere, nicht figurbetonte Kleidung lieber und hatte mich deswegen für ein lockeres schwarzes Tshirt Kleid entschieden, welches über meinen Knien endete. Kombiniert hatte ich es mit hohen schwarzen Boots. Adrian hatte seinen typischen Mehr-Kannst-du-von-mir-nicht-erwarten-Look an. Er trug ein schwarzes T-Shirt von einer neuen bekannten Marke und eine schwarze Jeans. Dazu dunkle Doc Martens.

"Heute ist da Blackout Night. Ich liebs!", sagte Helen freudig, als wir in Camden angekommen waren und zum Underworld liefen.

Der tiefe Bass vibrierte bereits in der Luft, noch bevor wir den Club betreten hatten. Vor der Tür des "Underworlds" drängten sich die Menschen, doch zum Glück hielt sich die Schlange in Grenzen – wir waren ohnehin schon etwas spät. Der Türsteher musterte uns kurz, bevor er uns passieren ließ. Kaum traten wir über die Schwelle, schlug uns die pulsierende Musik wie eine Welle entgegen, laut und intensiv.

Das Underworld war genauso cool, wie man es sich vorstellte. Die Atmosphäre war roh und zugleich einzigartig – die Decke aus Glas schimmerte im gedämpften Licht und ließ einen Hauch von Londoner Nacht durchscheinen. Die Wände, aus alten, verwitterten Backsteinen, strahlten den Charme der Vergangenheit aus, als würden sie Geschichten von zahllosen Nächten und gefeierten Momenten in sich tragen. Die Kombination aus urbanem Flair und den historischen Mauern schuf eine ganz besondere Stimmung – wild, ungezähmt und gleichzeitig irgendwie vertraut.

"Ein Cider bitte", sagte ich, erntete dafür bloß einen bösen Blick von Helen.

"Einen Cider? Komm schon, Elly. Wir haben was zu feiern!", rief sie und bat den Barkeeper nach 3 Shots. Ich schüttelte bloß lachend den Kopf.

"Auf Ellys Abschluss! Sie ist jetzt dem Erwachsenen-Club der Hart Arbeitenden beigetreten. Möge die Studenten-Elly in Frieden Ruhen!", rief Helen aus.

Ich lachte bloß, hob das Shot Glas.

"Auf Elly", rief auch Adrian, ehe wir alle den Shot leer tranken.

Die nächsten Stunden vergingen wie im Rausch. Wir tanzten, lachten und tranken, während die Zeit förmlich an uns vorbeiflog. Es war, als würde man in eine andere Welt eintauchen, eine, in der der Beat das Einzige war, das zählte. Die Nächte im Club hatten oft etwas Magisches, fast wie ein Rausch – und das ganz ohne Drogen. Man verlor sich in der Musik, in der Menge, und erst das grelle Tageslicht, das sich durch die Vorhänge kämpfte, riss einen schließlich aus dieser Illusion.

Als wir endlich den Club verließen, torkelten wir in einen Uber, der uns glücklicherweise direkt vor unserer Haustür absetzte. Lachend und erschöpft kämpften wir uns die vier Stockwerke des alten Gebäudes hinauf, jeder Schritt schwerer als der letzte. Ein murmelndes „Gute Nacht" ging noch durch den Flur, ehe wir uns in unsere Betten fallen ließen und der Nacht die Augen schlossen.

Zwischen Herz und HorizontWo Geschichten leben. Entdecke jetzt