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Das Büro von meinem Vorgesetzten, Herr Meyer, war kalt und unpersönlich, nur spärlich beleuchtet von einer einzelnen Lampe, die auf den Mahagonischreibtisch gerichtet war. Mit einer strammen Haltung, Hände fest auf den Rücken gepresst, stand ich vor ihm. Krampfhaft versuchte ich die Spannung in meinen Schultern zu ignorieren. Die kühle Luft aus dem Ventilator hinter seinem Schreibtisch ließ mich Ungutes verheißen. Durchdrungen von der Erwartung, dass etwas Großes im Gange war, erschwerte sich die Atmosphäre im Raum.
Meyer lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und ließ seinen scharf-kritischen Blick auf mir ruhen.

„Sie wissen, warum Sie hier sind." Ich schluckte. „Dieser Auftrag ist nicht wie die anderen. Er ist riskanter, und die Konsequenzen eines Scheiterns wären fatal."

Das ungute Gefühl in meiner Brust verbreitete sich schlagartig. Dennoch schaffte ich es mein Gesicht zu wahren und wenigstens so zu tun, als würde die Angst mir nicht gleich die Beine brechen.

„Wer ist die Zielperson?", brachte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

„Das ist der Knackpunkt, den Sie lösen müssen. Er ist bekannt unter dem Namen „Der Schattenkönig". Er ist der Anführer der gefährlichsten Bruderschaft der Welt. Die „Blutklingen" sind in so ziemlich jeder menschenverachtenden Machenschaft verwickelt. Auftragsmorde, Waffenhandel, Menschenhandel." Meyers Stimme war fest, aber ohne unnötige Härte. „Wir haben Grund zur Annahme, dass er plant, in den nächsten Monaten eine große Lieferung an Menschen und Waffen durch unsere Stadt zu schleusen. Ihre Aufgabe liegt darin, die Operation zu zerschlagen, bevor auch nur eine Ware das Land verlässt. Hüten Sie sich. Er ist der meistgesuchte Kopf - von den Bösen und Guten."

Mit einem einfachen Handzeichen schickte Meyer mich aus dem Büro heraus und ließ mich zurück mit einer Menge Respekt vor dieser Mission.

„Wo soll ich da bloß anfangen?", murmelte ich mir selber zu.

Ein Tippen auf meiner Schulter ließ mich zusammenfahren. Ich wendete mich der Person zu und musste leicht lachen. Vor mir stand Lukas mit einer Karte vor seinem Gesicht gehalten. Das machte er immer. Seine blauen Augen ragten knapp über den Rand der Karte, als er diese ein kleines Stück nach unten manövrierte.

„Immer zur Stelle, wenn du Hilfe brauchst", sagte er mit einem Unterton von Schüchternheit vermischt Stolz.

Lukas war einer der jüngsten Ermittler in unseren Reihen. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren war er ganze fünf Jahre frischer als ich und dennoch betrachtete ich ihn als Gleichgesinnten. Seine Arbeit in der IT-Abteilung wurde von jedem geschätzt. Schon oft hatte er mir aus der Patsche geholfen.

„Ein Anwohner meldete auf dem Heimweg Licht in eine der alten Lagerhallen, die eigentlich leer stehen sollten. Vielleicht sind wir da etwas auf der Spur."

Dankend nickte ich, als ich mir die Karte mit neugewonnenem Elan schnappte und zur Tür eilte. Ohne noch lange zu warten, stieg ich draußen in mein Auto und fuhr los.
Die Lagerhalle lag tief in den Schatten der verlassenen Industriezone, ein Ort, der von der Stadt längst vergessen schien. Niemand, dem sein Leben wichtig war, treibt sich in solchen Gegenden herum. Außer wenige Autos, die an mir vorbeifuhren, um nach Hause ins nächstgelegene Viertel zu gelangen, war es ruhig. Ich lehnte mich weiter vor an das Lenkrad, um eine bessere Sicht zu erlangen und konnte tatsächlich dumpfe Lichtstrahlen aus den schmutzigen Fenstern der Halle erblicken. Langsam parkte ich etwas abgelegen, in den Schatten der Dunkelheit, mein Auto.

Kaum hatte ich einen Fuß nach draußen gesetzt, roch ich den aufziehenden Regen und die erdrückende Atmosphäre. Nur das leise Tropfen von Wasser, dass irgendwo durch ein undichtes Dach sickerte, durchbrach die Stille. Die Luft war kalt und abgestanden, durchdrungen von einem Hauch von verrottetem Holz und altem, rostigen Metall.
Mit Bedacht näherte ich mich der Halle an, meine Bewegungen so präzise und leise, wie es einem Menschen nur möglich war. Meine Augen suchten mit forschendem Blick die Dunkelheit ab, während sich meine Hand voller Entschlossenheit um den Griff meiner Waffe schloss. Mir war bewusst, dass ich nicht alleine war. Wer genau hier war? Das war unklar geblieben.

Durch die Fenster der Lagerhalle tanzten die Schatten, verstärkt durch das spärliche Licht. Plötzlich ertönte ein unbekanntes Geräusch. Es war kaum mehr als ein Rascheln von Stoff, doch es ließ mich innehalten. Aus Reflex duckte ich mich hinter einer alten Kiste, die neben dem Lagerhaus vergammelte.
Nur wenige Meter weiter stiegen dünne Rauchspiralen in den Himmel und ein dunkler Schatten näherte sich dem Ort des Geschehens. Es roch nach Zigarette. Das Szenario bildete beinahe ein Bild der Ruhe, bis die Waffe in der Hand der Gestalt aufblitzte.
Langsam machte ich einen Schritt nach hinten, um die Deckung der pechschwarzen Dunkelheit aufzusuchen.

Knacks.

Unter meinem Fuß verbog sich eine morsche Holzplatte, die drohte in einem noch lauteren Knacks zu zerbrechen. Als ich wieder zu dem Unbekannten blicken wollte, war dieser verschwunden. Vielleicht alarmierte er seine Mitglieder oder ich hatte ihn verjagt. Ich wusste es nicht und darauf anlegen, dieses Geheimnis zu lüften, wollte ich auch nicht.
In mir brodelte der Drang einfach wegzulaufen, aber ein eiskaltes Gefühl an meinem Hinterkopf ließ mich zu Stein erstarren.

„Keine Bewegung. Wer sind Sie?" Eine männliche, scharfe Stimme durchschnitt die Luft mit einer gefährlichen Präzession. Mit einem leichten Zittern in meinen Armen hob ich meine Hände und versuchte dennoch meine Härte zu bewahren. Es stellte sich jedoch als kompliziert heraus, wenn man jeden Moment davor ist, mit dem Tod Hand in Hand zu laufen.

„Ermittlerin. Viktoria Dragunov." In meinem Training wurde mir gelehrt, dass in solchen Situationen die Wahrheit das Beste ist, was man tun kann. Lügen haben wahrhaftig kurze Beine.

„Ausweis."

„Rechte, hintere Hosentasche." Plötzliche Bewegungen wären mein sicheres Grab. Das Misstrauen in der Stimme des Mannes war nicht zu überhören. Uns beiden war klar, dass das hier alles andere als ein Spiel ist.
Unerwartet benetzten meine Haut einige Wassertropfen und das klirrende Metall der Wände fühlte den Moment der Stille. Der Regen war eine willkommene Abkühlung in dieser hitzigen Situation.

„Adrian Jenkins, Verbindungsbeamter von Europol." Ein Ausweis drängte sich in mein Sichtfeld. Das Wasser perlte an ihm ab. Prüfend kniff ich meine Augen zusammen. Der Ausweis war echt. Dieser Mann war ein Kollege - auch wenn ich ihn nicht kannte. Erkennend nickte ich. Das kalte Eisen entfernte sich von meinem Schädel.
Mit frisch gefasstem Selbstbewusstsein drehte ich mich zu dem Mann herum, der seine Waffe fein säuberlich verstaute. Still hielt er mir mit der anderen Hand meinen Ausweis hin. Ich schnappte ihn mir.
Durch die Dunkelheit konnte ich nicht viel von ihm erkennen außer die stechend, beinahe giftgrünen, Augen.

„Da wurden wir wohl beide überrascht", brachte er mit einem belustigten Unterton hervor. Als wären wir hier bei einem entspannten Kennenlernen, lockerte sich seine große Statur auf. Lässig steckte Adrian seine Hände in die Hosentaschen.

„Scheint so. Was machen Sie hier?"
„Adrian."
„Was?"
„Nenn mich Adrian, Vika."

Abfällig schnaubte ich. Für mich war dieser Mann die Definition von Respektlosigkeit. Wir beide sind Ermittler im Dienst und keine Freunde. Er entwickelte stattdessen in den ersten Minuten einen Spitznamen für mich, obwohl seine Waffe davor an meinem Hinterkopf geklebt hat.

„Dragunov für Sie, Herr Jenkins", erwiderte ich auf seine Spitzfindigkeit.
„Gut, Vika. Ich wurde hierher geschickt von Europol. Ein Informant gab uns diese Lagerhalle als Tipp, um den Schattenkönig zu stürzen. Wir sind schon eine sehr lange Zeit hinter ihm her."
Dieser Mann wollte nicht lernen, aber für das Erste ließ ich das Thema mit Etikette und Namen fallen. Es gab wichtigere Gespräche zu führen. Ich verkreuzte die Arme vor meiner Brust, ein Versuch mich von dem kalten Regen zu wärmen.

„Das bedeutet, dass wir entweder an der falschen Stelle sind- oder dass jemand uns reingelegt hat."

Eine bedrückende Stille legte sich über uns, während wir die Umgebung und jeden Schatten mit Argwohn betrachteten. In unseren Köpfen klackerten die Räder. Es war unmöglich ein Zufall, dass ein Informant zwei Ermittler zur selben Zeit, an denselben Ort schickt.
„Irgendjemand möchte uns genau hier", murmelte Adrian, mehr zu sich selbst als zu mir.
Ein dumpfer Schlag, gefolgt von schweren Schritten in der Halle, durchbrach die Lautlosigkeit. Wir beide reagierten sofort, unsere Waffen wieder im Anschlag, und schlichen durch den Seiteneingang.
Schlagartig war uns wieder bewusst geworden, dass wir nicht alleine waren- und dass dieser Einsatz weit gefährlicher war, als ursprünglich angenommen.

„Wir kennen uns nicht, aber wir müssen zusammenarbeiten", äußerte Adrian mit einem Nachdruck, der kein ‚Nein' zuließ.
Nach kurzem Zögern antwortete ich, „Nur diese eine Situation und danach gehen wir wieder unsere getrennten Wege."

GiftkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt