Kapitel 2

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Ich erfuhr eine Menge über meine Eltern. Nicht alles, aber das Nötigste. Weiteres würde ich mit der Zeit erfahren. Ihre Vergangenheit ist mir jetzt aber bekannt. Ihnen wurde ein Datum zugewiesen, an dem sie sterben sollten. Das wird allen, die Kräfte haben. Auch ich werde, wenn es soweit ist, mein Datum erfahren. Meine Eltern bekamen ihre Kräfte als kleine Kinder. Sie waren nicht krank, aber erfuhren frühzeitig von der Magie und man übergab ihnen die Kräfte. Zumindest war das bei meiner Mutter so. Mein Vater sprach nicht gerne über Vergangenes, hatte Damien erwähnt. Vor seinem Tod aber sprach er zu Damien und meinte, er solle auf mich aufpassen und mir alles erzählen, wenn die Zeit reif ist. Damien war noch jung. Man konnte nicht so viel von ihm erwarten, aber er versprach meinem Vater diesen Wunsch, bevor er die Welt verließ und ging. Gehen tun solche Leute wie ich aber nicht, wir verlassen bloß unser derzeitiges Leben. Wir verlassen unsere Familie, Freunde und betreten die andere Seite. Damien weiß nicht viel über sie. Es gab nur eine Person, die jemals wiedergekommen ist, und die ist nicht leicht aufzufinden. Sie ist auf der Flucht, hatte Damien gesagt. Die andere Welt frühzeitig zu betreten oder zu verlassen, bringt in Lebensgefahr. Man bricht ein Gesetz. Was mein Problem ist. Ich muss auf die andere Seite, aber es ist mir nicht erlaubt. Wie ich reinkommen soll, oder wieder rauskommen, ist mir unklar. Aber ich habe ein Ziel vor Augen -meine Eltern. Ich werde alles und jeden verlassen müssen, um auf die andere Seite zu kommen. Wer weiß, wann ich zurückkomme und ob ich es schaffe. Ein Gedanke beruhigt mich: Damien wird mir beistehen.
Mit jedem Tag komme ich meinen Eltern näher, dachte ich und stand auf, um den Tag zu beginnen. Meine Pflegemutter, Alice, brachte mich zur Schule, wie jeden Morgen. Ich war tief in Gedanken über die andere Welt versunken, als sie mit anstupste. Ich zuckte zusammen und sah Alice fragend an. „Ich frage dich jetzt zum dritten Mal, ob du heute Nachmittag nach hause kommst oder wieder mit deinen Freundinnen unterwegs bist", sagte sie und hielt das Lenkrad fest umklammert. „Ich werde wahrscheinlich wieder bei meinen Freundinnen sein", log ich. Ich gebe vor, Freunde zu haben. Ich gebe vor, ein anderes Leben zu haben, als das, was ich habe. Nur Damien weiß von meinen Kräften und meinen Plänen. Es brach mir das Herz zu wissen, dass ich meine Pflegeeltern bald, ohne Bescheid zu sagen, verlassen würde. Diesen Nachmittag würde ich bloß zu Damien gehen, aber der Tag wird kommen, und ich werde mit ihm fortgegangen sein. „Du bist sehr oft unterwegs... in letzter Zeit. Gibt es da jemanden, den dein Vater und ich kennen sollten?", sie warf mir einen Blick von der Seite zu. Es verdeckten keine langen Haare ihr komisches Lächeln. Sie hat eine Kurzhaar-Frisur. „Was meinst du?", fragte ich ahnungslos. „Gibt es da einen Jungen in deinem Leben?", fragte Alice konkreter und seufzte. „Nein! Nein", antwortete ich. Ich hatte gar keine Zeit, um an Jungs zu denken. Es gab wichtigeres in meinem Leben. Dazu zählten meine richtigen Eltern, Damien und meine Pflegeeltern. Sonst niemand. „Es war nur eine Frage, entschuldige. Es kam mir bloß so verdächtig vor, dass du kaum noch zu Hause bist", erklärte sie. „Es gibt da niemanden, keine Sorge", sagte ich lachend und wartete darauf, in der Schule anzukommen.
Die Kräfte zwischen so vielen Schülern zu kontrollieren, ist eine Herausforderung. Aber ich überwältigte den Tag, ohne Komplikationen. Vor der Schule wartete Damien auf mich. Den einzigen Freund, den ich habe, aber verheimliche. Er stand mit seinem schwarzen Wagen auf dem Parkplatz und kurbelte das Fenster runter. Das Auto ist bisschen älter, aber es hatte Damiens Vater gehört und er möchte es ungern verkaufen. „Wie war die Schule?", fragte er. Ich stieg zu ihm rein. „Ich lebe noch. Das ist doch ein gutes Anzeichen, nicht wahr?" „Ein sehr Gutes", meinte er und brachte den Wagen zum Fahren. Ich beschleunigte ihn mit meinen Kräften noch ein wenig. Ich tat es immer, aber Damien schien es nicht aufzufallen.
Mit dem "Zaubern" ist es nicht einfach. Man muss eine Menge Konzentration aufbringen. Die ersten Monate, nachdem ich meine Kräfte bekommen hatte, waren die schlimmsten. Bloß nur einen Stuhl mit meiner Kraft zu bewegen, fiel mir schwer und nahm mir all meine andere Kraft. Aber von Zeit zur Zeit wurde es besser, ich wurde stärker.
Damien bog an einer Kreuzung ab. Noch nie waren wir zusammen diesen Weg gefahren. Ich bekam Angst. Ist heute der Tag, an dem ich mein ganzes Leben zurücklasse und nach meinen wahren Eltern zu suchen beginne? Die Autotüren fielen ins Schloss. Bei Anspannung fällt es mir besonders schwer, meine Kräfte zu kontrollieren. „Wohin?", fragte ich mit zitternder Stimme. „Ich glaube, wir sollten uns darüber informieren, durch welchen Gang, wenn man es so nennen kann, auf die andere Seite gelangt", antwortete er. Mein Puls legte sich wieder. „Heißt das, ich bin bereit zu kämpfen?", fragte ich. Es war eine Zeit lang vergangen seit dem Vollmond, bei dem meine Eltern mit mir gespielt hatten. Ich hatte in der Zeit viel trainiert, auf vielen unterschiedlichen Art und Weisen. Sie waren zum Teil komisch, zum Teil vorderten sie mich heraus, aber ich gab nicht auf. „Ich weiß nicht, ob man auf sowas bereit sein kann, aber du hast große Beherrschung und deine Zaubereien verliefen in letzter Zeit einwandlos, aber könntest bitte wieder die Schlösser der Türen öffnen?" „Ja, sicher", sagte ich und schloss die Augen für einen kurzen Augenblick, dachte an das Schloss und es öffnete sich. Wenn doch bloß der Weg zu meinen Eltern so leicht wie ein Schloss zu öffnen wäre.
Ich wusste nicht, dass man Kontakt zu Menschen auf der anderen aufnehmen konnte, aber man kann es. Nicht zu allen, bloß zu denen, die sich in einer komplizierten Lage befinden. Sie müssen vor dem Tod geflüchtet sein. Sie hatten versucht ihm zu entkommen. Sie kennen den Weg auf die andere Seite. Doch Kontakt zu ihnen aufzunehmen, war nicht so einfach wie erwartet. Damien fuhr mit mir in eine andere Stadt. Tief im Wald erst blieben wir stehen. „Wieso nehmen wir hier Kontakt zu ihnen auf?", fragte ich. „Ein Mann soll hier gegangen sein. Wenn man die Orte besucht, an denen diese, in der Zwickmühle steckenden Menschen, ums Leben kamen, sollte man Kontakt zu Ihnen aufnehmen können." „Aber woher weiß man, dass sie sich in der Lage befinden?" Ich hatte unglaublich viele Fragen. Aber es war alles neu für mich. „Es sind alte Geschichten, die immer weitererzählt wurden. Sie können der Wahrheit entsprechen. Dies hier kann aber auch ein totaler Reinfall sein. Sei also bitte nicht enttäuscht, wenn es nicht klappt." Ich wäre enttäuscht, wenn ich meine Eltern, bis zu meinem Tod, nie wieder sehen könnte. Aber es gab noch Chancen. Viele Chancen, die ich nutzen würde, auch wenn sie mein Leben kosten.

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