„Ich habe eine Idee, wie wir den Weg finden können", platzte Damien heraus, während ich neben ihm auf einem abgenutzten Sofa saß. Wir waren in seiner neuen Wohnung. Die Alte war wegen meinem Durcheinander der Kräfte nicht mehr bewohnbar. Die neue Wohnung lag im dritten Stock eines Wohnhauses und hatte, zu meinem Glück, einen Fahrstuhl. „Es ist aber riskant." „Wir wollen auf die andere Seite, etwas riskanteres gibt es gar nicht. Was ist deine Idee?" Damien schaute mich von der Seite an. Ich drehe meinen Oberkörper einem wenig, um ihn ansehen zu können. „Wir müssen sterben. Oder bloß einer von uns. Ich mache es." „Nein!", widersprach ich, „Du warst tot. Müsstest du nicht wissen, wo der Weg ist?" „Doch, aber es gibt jedes Jahr einen neuen Eingang." „Warum sterbe ich nicht einfach, ich meine, ohne wiederzukommen? Dann gibt es keine Probleme mehr und ich bin gleich bei meinen Eltern." „Du würdest nicht zu ihnen kommen. Du hättest noch kein Datum gehabt." „Meine Eltern starben auch 10 Jahre früher", gab ich zurück. „Das ist eine andere Geschichte, denn sie wussten ihr Todesdatum, du kennst deins nicht." „Warte, würde ich jetzt sterben, würde ich den Eingang sehen, aber woanders hingebracht werden?" „Ja. Als ich starb, landete ich im Nichts. Es gab aber mehrere Türen. Ein älterer Mann wollte mich dann einer Tür zuweisen, aber ich erklärte ihm, dass du mich noch bräuchtest. Ich wäre beinahe in der Hölle gelandet. Ich habe die Hitze gespürt, die hinter einer großen, dunkelroten Tür strömte." „Der Fluch auf mich war beendet, als du meine Eltern umgebracht hast?" Damien nickte. „Das ist jetzt aber nicht das Problem. Ich werde sterben und mich nach der Tür umsehen. Ich kenne mich aus, du nicht." Ich hatte andere Pläne im Kopf, wollte aber nicht, dass Damien es merkte. „Nein, ich sterbe", nörgelte ich. Damien sah mich wütend an. Seine Augen funkelten im Licht. „Ich sterbe, Layla." Ich gab nach. „Wann willst du es hinter dich bringen? Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?" "Es ist eine bessere Möglichkeit, als dich sterben zu lassen. Ich habe nur kurz Zeit, die richtige Tür zu finden. Die führt mich dann an den Ort, wo man die Seite wechseln kann. Du wärst vorerst überwältigt, aber es muss alles schnell ablaufen. Ich darf dort keine Zeit verlieren. Ich werde es morgen durchziehen." Ich war erleichtert, dass er mir erzählte, was auf mich zukommen würde. Ich musste es nur noch hinter mich bringen, diese Nacht. „Rufst du mich vorher an, damit ich kommen kann?", fragte ich. Dabei würde es so weit gar nicht kommen. „Natürlich", antwortete Damien. Ich wollte ihn umarmen, aber ließ es. Ich darf keine Gefühle für ihn haben!
Ich konnte abends im Bett meine Augen nicht schließen. Ich war zu aufgeregt und dachte darüber nach, was auf mich zukommen würde. Ich durchdachte meinen Plan zum gefühlten hundertsten Mal. Mein Herz fing zu rasen an. Wie komme ich zurück? Wenn ich die richtige Tür gefunden habe, den Weg zur anderen Seite erkenne, wie kehre ich dann wieder zurück? Ich hob meine Bettdecke an und warf sie zur Seite, mir wurde zu heiß. Ich konnte nicht Damien fragen, er würde merken, was ich vorhabe. Ich wälzte mich in meinem Bett hin und her, bis es kurz nach zwei Uhr nachts war. Jetzt wollte ich gehen. Ich hatte noch keine Lösung für den Rückweg gefunden, aber leise zog ich mich an und nahm eine Tasche mit. In ihr war nichts, außer einem Messer. Alice und William schliefen tief und fest. Ich konnte mich leicht aus dem Haus schleichen. Ich rannte durch die Straßen, die mir bekannt sind. In dieser Gegend hatte ich nach meinem Tod gesucht. Betete, mich würde jemand umbringen, damit ich endlich wieder zu meinen Eltern konnte. Ich erinnerte mich an die Nacht zurück, als ich meine Kräfte bekam. Das Auto, das mich umfuhr, Damien, der mir ein Fremder war, und den Platz, an dem ich meine Kräfte schließlich bekam. Dort wollte ich mir das Messer ins Herz stechen. Ich hatte den Platz bewusst gewählt, um mich umzubringen. Damien wird mich am Morgen anrufen, ich werde nicht abnehmen. Er wird zu mir nach Hause kommen, aber meine Eltern werden nicht wissen, wo ich bin. Diesen Ort haben wir mehrmals gemeinsam besucht. Es ist unser Platz. Unsere Vergangenheit. Er wird wissen, dass ich hier bin und bevor er sich umbringt, wird er mich sehen, tot. Er wird in Sicherheit sein. Dieser Gedanke bruhigte mich. Er würde nicht für mich sterben, nicht wieder. Ich legte mich auf den schneebedeckten Rasen. Mir frierten stark die Fingerspitzen. Noch ein letztes Mal sah ich mir den Himmel an. Es war eine Nacht voller Sterne. Noch nie hatte ich so viele hoch am Himmel gesehen. Sie zu zählen würde Stunden dauern, dennoch zählte ich ein paar und genoss die letzten Minuten. Werde ich hier je wieder liegen können? Werde ich meine Pflegeeltern je wiedersehen können? Ich konnte ihnen keinen Brief schreiben. Sie durften von all dem nichts erfahren. Mir strich eine warme Träne über die Wange. Meine Hose war bereits nass, meinen Oberkörper schützte meine wasserfeste Winterjacke vorm nass werden. Wird mein Körper hier noch liegen bleiben, wenn ich sterbe? Ich hoffte es. Ich dachte noch an Damien. Seine grünen Augen sahen mich in meinen Gedanken an. Ich war ungern in der Situation, alles hinter mir lassen zu müssen, aber froh, dass Damien nicht sterben musste. Dennoch zitterte ich an ganzem Körper und jedes Mal, als ich daran dachte, gleich würde ich alle verlassen, erging es mir seelisch immer schlechter. Wie wird es sein, wenn ich zurück bin und mit Damien weggehen werde müssen? Dann wird es sicherlich kein Zurück mehr geben. Ich nahm das Messer in die Hand und hielt es über meinem Herzen. Der Himmel spiegelte sich auf dem Messer wider. Ich wollte nicht mit runtergezogenen Mundwinkel sterben und lächelte breit, bis ich mir den Himmel ins Herz stoß und meinen letzten Atemzug hatte.
Damien hatte die Wahrheit gesagt, nicht dass ich daran gezweifelt hätte, aber ich erwachte im Nichts. Es muss schnell gehen, dachte ich mir und sprang vom hellen Boden auf. Noch sah ich nichts. Es war alles weiß. Wo gibt es hier Türen? Ich renne im Kreis herum, wobei ich keinen Kreis deuten kann. Ich hätte auch wild durcheinander rumrennen können, ohne es zu merken. Alles sah gleich aus. An jeder Stelle sah ich immer dasselbe. Wo bin ich gelandet? Ist etwas schief gelaufen? Ich stampfte auf den Boden, der sich nicht zu bewegen schien, egal wie stark ich ihn unter Druck setzte. Was soll ich tun? Es geschah nichts. Ich war verunsichert und weinte. Ich hatte einen Fehler begangen, den ich nicht rückgängig machen konnte. Wie spät ist es? Plötzlich sah ich leicht Türrahmen, die immer deutlicher wurden. Schließlich hatte ich fünf Türen vor mir. Eine Dunkelrote, darauf folgte eine Grüne, dann eine Blaue, eine Gelbe und eine Weiße. Grün bedeutete für mich immer etwas Positives, daher sah ich zuerst nach, was sich hinter der Tür verbarg. Nichts. Ich öffnete die Blaue Tür. Es schien wie der Himmel zu sein, sah aus, als würde man auf den Wolken fliegen. Für mich war es Wertlos, ich brauchte einen Weg. Langsam öffnete ich die gelbe Tür, weil ich ein schlechtes Gefühl bei ihr hatte. Doch hinter ihr verbarg sich bloß eine Wiese voller Sonnenblumen. Es gab einen Weg durch das Feld, aber ich war mir unsicher. Führt dieser Weg zur anderen Seite? Schnell sah ich noch kurz nach, was sich hinter der dunkelroten Tür verbarg. Ich war nicht überrascht, als ich Feuer sah. Aber das Geschreie von Menschen ließ mich erschrecken und ich schloss die Tür schnell wieder. Hinter der weißen Tür verbarg sich schließlich etwas Brauchbares. Bei dieser Tür landete man in einer Kirche. Alles glänzte und lud ein, die Kirche zu betreten. Ich traute mich den Schritt hinter die Tür. Schritt für Schritt lief ich über den Gang zwischen den Bänken. Ich stieg eine Stufe zum Altar hinauf, erwartete, dass eine Sierene oder Ähnliches zu läuten begann, aber ich war in Sicherheit. So fühlte ich mich immerhin. Hinter dem Altar ging es wieder eine Stufe runter. Dahinter vebarg sich eine Treppe. „Der Weg", sagte ich leise und machte mich wieder auf den Weg zurück. Oder soll ich den Weg zur anderen Seite nehmen? Ich halte vor dem Ausgang der Kirche und wende mich noch einmal zu ihr. Es wird schwer sie auf unserer Welt zu finden, denn durch die normale Welt werde ich diese Treppe nehmen müssen, um zu meinen Eltern zu kommen, und zwar nicht als Tote, sondern als Mensch. Ich merkte mir, wie die Kirche aussah und verließ sie wieder. Wie soll ich zurück nach Hause?
Hilflos saß ich auf dem Boden. Sollte nicht jemand zu mir kommen? Wie lange bin ich schon hier? Die Stunden verflogen. Ich wurde immer ungeduldiger und entschied mich, die Treppe hinter dem Altar hinunter zu steigen. Ich wollte nicht länger darüber nachdenken, was geschieht, wenn ich sie runtersteige, sondern trat mit einem Fuß vor. Ich bemerkte, dass auf einmal jemand neben mir stand, trat wieder zurück und drehte mich ängstlich zur Person. Es war ein kleines Mädchen. Es war ich, ungefähr im Alter, als meine Eltern starben. Meine Locken lagen wie früher, ich trug mein Lieblingskleid und hatte mein wundervolles Lächeln aufgesetzt. „Du willst da nicht runtergehen", sagte mein kleines Ich. „Wieso? Meine Eltern müssten dort sein." „Sie sind dort, auf der anderen Seite, aber es ist nicht der richtige Weg für dich", antwortete sie mir. „Soll ich ins Feuer, ins Nichts, durch die Sonnenblumen? Ich habe doch keine Ahnung." „Doch, natürlich hast du Ahnung! Ich werde dir sagen, welche Tür du nehmen musst, aber vorher möchte ich mehr über dich erfahren." „Du musst doch alles über mich wissen?", das dachte ich zumindest, denn sie war ich. „Nein, du bist jemand anderes. Ich kenne dich nicht. Ich war bloß du, bis du einen Herzstillstand hattest." Ich wusste nicht, dass ich einen Herzstillstand hatte. „Ich hatte einen Herzstillstand?" „Ja, du lagst doch im Krankenhaus. Du warst am Schlafen und hast es nicht mitbekommen. Die Ärzte konnten dich retten, aber deine Eltern mussten sich für dich opfern. Dieser Fluch..." „Ich weiß wovon du sprichst", unterbrach ich sie, damit sie nicht mehr über den Fluch erzählen konnte, aber eine Frage hatte ich dazu. „Warum wurde auf mich ein Fluch belegt?" „Du bist die Nacht. Die Dunkelheit, die Finsternis. Man hatte Angst vor dir. Dein Name ist Layla. Layla bedeutet Nacht." „Woher weißt du das alles?" „Ich bekomme hin und wieder mal mit, wenn man auf der anderen Seite über dich spricht." „Sie sprechen über mich?" „Ja, sie haben Angst, du würdest Schlimmes anstellen." Bis auf die Tatsache, dass ich auf die andere Seite möchte, bereite ich doch keine Probleme? „Ich bin zu dir gekommen, weil keiner kommen wollte. Du bist stärker, als alle anderen hier." Das wusste ich nicht. „Warum sind meine Eltern nicht gekommen?" „Sie sind dazu nicht in der Lage." Ich wollte nicht weiter nachfragen, sondern meinen Weg nach Hause finden. „Was möchtest du wissen, damit du mir sagst, welche Tür ich nehmen soll?" „Wie verlief dein Leben bis jetzt?" „Nach dem Tod meiner Eltern bekam ich eine nette Familie zugewiesen. Sie sind unglaublich nett und sorgen sich um mich. Ansonsten führte ich ein ganz normales Leben, wie jeder andere. Bis ich meine Kräfte bekam." „Wie war es für dich mit den Kräften umzugehen?", fragte die Kleine neugierig. „Nicht leicht zu Beginn, es ist schwer, die Kräfte zu kontrollieren. Aber Damien half mir." „Ich kenne ihn." „Ach ja?" „Ich durfte ihm die Nachricht überbringen, dass er zurück auf die Welt konnte. Er war gefangen, er saß im Gefängnis auf dieser Seite. Er hatte deine Eltern umgebracht. Es war ihm nicht erlaubt." „Aber er konnte zurück. Danke, für alles, was du hier für mich tust." „Ich bin die Einzige, die sich um dich sorgt. Du bist eine Gefahr für die anderen." „Sie warten darauf, dass ich etwas anstelle", stellte ich nochmal fest. „Ja, genau. Ich hoffe du verstehst, in was für einer Lage du dich befindest. Ein Fehler und du bist tot." Es war mir nicht klar. „Danke, dass du mich warnst. Was möchtest du noch erfahren?" „Da gibt es eine ganze Menge", sagte sie und grinste. „Du hast Gefühle für Damien?" Meine Wangen wurden rot. „Woher... Woher weißt du das?", hackte ich nach. „Es wird gemunkelt. Keine Sorge, ich erzähle es keinem auf der anderen Seite. Aber du solltest es ihm sagen. Warum hast du bloß gelacht, als er mit dir über die komische Situation, die ihr hattet, sprechen wollte?" Ihre Neugier war groß, aber ich konnte ihr nicht sagen, was für einen Plan ich hatte und in welcher Lage ich mich wirklich befand, wodurch ich ihr auch nicht erzählen konnte, warum ich mit Damien nicht über den beinahen Kuss reden wollte. „Ich möchte nur mit ihm befreundet sein." „Warum?" Sie blinzelte mich an. Ich wollte ihr von meinem Plan erzählen, aber ich kannte sie nicht. Wie sollte ich ihr vertrauen? Sie sah bloß aus wie ich. „Er verschwindet immer. Ich kann nicht mit der Angst leben, dass er jemals wieder abhaut." „Oh, das ist... Das tut mir leid." Ich lächelte kurz. „Was wird auf der anderen Seite noch über mich gesagt?" „Du bist stark. Sehr stur in manchen Fällen. Wir warten alle auf einen Fehler von dir. Und es ist noch zu früh für dich, um zu sterben. Du musst die grüne Tür nehmen, sie bringt dich auf die Welt zurück. Hinter dem Nichts, verbirgt sich dein Leben. Obwohl, dein Leben ist ein Nichts. Irgendwann stirbst du und wer weiß, wo du landest. Vielleicht in der Hölle. Ich hoffe doch, dass du nicht Falsches machst. Und wage es nie wieder herzukommen, um dann die Treppe zur anderen Seite zu nehmen!", sagte sie und verschwand. Sie hatte nicht meinen Charakter. Sie sah aus wie ich, mehr nicht. Ich sollte die grüne Tür nehmen. Ich öffnete sie. Mein Leben war kein Nichts. Es war mehr. Ich habe eine Familie, einen besten Freund und meine Kräfte. Außerdem war ich fast auf der anderen Seite und plante meine Eltern wiederzusehen. Mein Leben war viel mehr, als sie sich vorstellen konnte. „Ihr werdet noch viel von mir hören! Bis zum nächsten Mal", schrie ich, weil mir bestimmt alle zusehen und zuhören. Ich sprang durch die Tür, schien zu fallen, schloss meine Augen und wartete, wieder in meinem Leben anzugelangen.
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