Kapitel 6

1 0 0
                                    

Bei Dunkelheit wachte ich wieder auf. Es war Nacht. Damien saß mit dem Rücken zu mir aud dem Boden. „Ich bin da", sagte ich zurückhaltend. Er drehte seinen Kopf leicht zu mir. „Ich sollte sterben", sagte er. „Du wärst nie wieder gekommen. Da geht es nicht gut zu. Meinst du, sie würden dir noch eine Chance geben, um zurück zu kommen?" „Mir wäre es lieber, ich wäre gestorben." Ich konnte es ihm nicht recht machen und wechselte das Thema. „Der Weg führt durch eine Treppe. Sie befindet sich hinter dem Altar einer Kirche." „Willst du vielleicht auch selbst weitersuchen? Immerhin planst du alles ohne mich. Ich sollte dir doch bloß helfen, den Weg zu finden. Jetzt hast du ihn." „Damien, ich benutze dich nicht!" Er stand auf, ich stellte mich ebenfalls auf meine Beine, wobei mich ein Schwindelgefühl überkam. „Du stirbst und lässt mich hier im Stich, ohne mich auch nur zu warnen." „Ich habe mich hier umgebracht. Es war ein Zeichen für dich. Du solltest herkommen, ich wusste, dass du kommst. Du warst ein Teil dieses Planes, ein wichtiger Teil." Wie konnte meine Entscheidung so falsch gewesen sein? Er war in Sicherheit. Sollte er nicht dankbar sein und sich freuen, dass ich lebe? „Ich sollte hier weg." Mein Atem stoppte. „Wenn du jetzt wieder verschwindest, dann brauchst du nie wieder zu kommen." „Ich werde nie wieder kommen, versprochen." Er zögerte einen kurzen Augenblick und ich wusste, dass ich etwas hätte sagen sollen, aber ich ließ ihn gehen. Ein weiterer Fehler in meinem Leben. Ich bewegte mich auch nicht von der Stelle, stand wie angewurzelt auf dem Boden, bis er weg war. Mühevoll machte ich die ersten Schritte und schleppte mich müde nach Hause. Ich sah mir meine Brust im Fenster der Haustür an. Ich hatte keine Wunde. Wenn ich eine gehabt hätte, hätte ich sie wahrscheinlich auch früher bemerkt. Ich drückte den Griff der Tür herunter und betrat das Haus.
„Wo hast du gesteckt?", fragte William wütend. Ich brauchte schnell eine Lüge. „Ich weiß nicht. Ich bin irgendwo aufgewacht. Wie lange war ich weg?" „Einen Tag. Woran erinnerst du dich?", fragte Alice. Sie und William tauschten besorgte Blicke aus. „Ich war morgens spazieren, weil es mir nicht gut ging und weiter... weiter weiß ich nicht." Alice brach in Tränen aus. „Ich leg mich in mein Bett. Ich bin müde." „Was glaubst du, was mit ihr geschehen ist?", fragte William als ich oben ankam. Er nahm Alice, welche laut schniefte, in die Arme. Ich belauschte die beiden noch weiter. „Da war ein Junge bei ihr. Er war vor paar Tagen hier. Vielleicht hat er ihr wehgetan?" Damien. „Wenn du ihn nochmal siehst, sag mir Bescheid. Ich regel das." Er würde hier nie wieder auftauchen. Beruhigt ging ich in mein Zimmer und legte mich in mein Bett. Mit meinen Kräften ließ ich die Tür zu meinem Zimmer ins Schloss fallen und überlegte, wohin Damien gegangen sein konnte, bis ich in den Schlaf glitt.
Ich hatte nicht geglaubt, dass Damien nach zwei Tagen noch da ist, aber ich wollte trotzdem bei seiner Wohnung vorbeischauen. Vor der Schule ging ich am Morgen zum Hochhaus, in dem er wohnte. Der Fahrstuhl war besetzt, ich musste die Treppe nehmen. Ich lief sie schnell rauf und lief dabei in jemanden hinein. Die Schuhe sind mir bekannt, schwarze Chucks. Seine ebenso schwarze Hose und seine geheiligte schwarze Lederjacke. Er ist es. „Geh nicht", sagte ich zu Damien. Er hielt zwei große Taschen in seinen Händen. Seine Hände spannten sich an. „Lass mich nicht wieder alleine", flehte ich. Er stand eine Stufe höher als ich und sah auf mich hinab. Ich starrte auf seine Schuhe. „Sag doch etwas", sagte ich nach geraumer Zeit. „Ich sollte dir versprechen, nie wieder zu dir zu kommen, jetzt stehst du vor mir. Was soll das?" „Ich möchte, dass du bleibst", erklärte ich ihm. „Du hast den Weg zur anderen Seite, warum soll ich noch bleiben?" Weil ich dich mag, du Idiot! „Weil du der einzige Freund für mich bist, ich dir alles anvertrauen kann und dich brauche, nicht nur um zu meinen Eltern zu kommen. Ich brauche dich als Freund." „Weißt du, wie schlecht ich mich fühlen würde, wenn du für immer gestorben wärst? Mach nie wieder etwas, ohne mich zu warnen", sagte er, „Ich bleibe hier." Ich schnappte ihm eine Tasche aus der Hand und grinste ihn an. „Wird Zeit, zurück in deine Wohnung zu gehen." Gott sei Dank, habe ich die Treppe genommen und nicht den Fahrstuhl! War es wohl Schicksal, dass ich ihm noch auf der Treppe begegnet bin?
Die Schule hatte ich am dem Tag nicht mehr besucht. Ich verbrachte den Vormittag mit Damien im Internet. Wir suchten nach Fotos von Kirchen, die dieselbe Treppe hatten, wie die aus dem Altar. Nach mehreren Stunden wollte ich aufgeben, zu suchen. „Damien, es ist sinnlos", sagte ich enttäuscht. „Nein, wir finden die Kirche, ich weiß es." Er sah sich weitere Bilder an. Plötzlich tauchte die Treppe auf und die Kirche sah innen exakt gleich aus, wie die Kirche auf der anderen Seite. „Halt!", rief ich. „Das ist sie", sagte ich und zeigte mit dem Finger auf das Bild. Er klickte auf das Foto. Es gab mehrere Bilder von der Kirche und auch die Treppe war auf einem der Bilder zu erkennen. „Die Stadt ist mehrere tausend Meilen von uns entfernt. Die Kirche liegt in einem anderen Land. Clearwater heißt die Stadt. Sie liegt in der Nähe von Forks." „Wie sollen wir da bloß hinkommen?" Mein Plan schien mir immer unmöglicher. Ich hatte nicht das Geld, um über ganz Amerika zu reisen. Ich konnte nicht Damien mitnehmen, es würde zu viel seiner Zeit beanspruchen. „Das geht nicht. Lass uns das ganze vergessen." Ich war den Tränen nahe. „Nein, wir haben so lange gesucht. Du bist gestorben, um diesen Weg zu finden. Wir werden gehen." „Ich sollte vielleicht alleine gehen. Wir sehen uns wieder, wenn ich zurück bin." „Ich gehe mit", sagte Damien fassungslos. „Das wird dauern, da anzukommen. Bleib hier. Ich kann nicht immer deine Zeit beanspruchen." „Wo willst du schlafen ohne mich? Was willst du essen? Wie willst du diese Reise ohne mich überstehen. Ich habe Geld. Nicht viel, aber es würde reichen, um zu gehen." Er ermöglichte mir den Weg zu meinen Eltern. „Danke. Ohne dich wäre ich nie so weit gekommen. Ich... ich... du bist der Beste." War ich gerade kurz davor ihm zu sagen, dass ich ihn liebe? Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Dein Herz schlägt unglaublich schnell." „Vor Glück", sagte ich, aber es schlug wegen seinem Kuss so schnell. „Wann soll es losgehen?", fragte Damien.
In 24 Stunden. Dann musste ich mich von meinen Eltern verabschiedet haben. Ich wachte auf. Es war der letzte Morgen für mich, den ich zu Hause verbringen würde. Ich wusste nicht, ob ich wiederkomme, wusste auch nicht, ob ich es wollte, nachdem ich meine wahren Eltern wiedergesehen habe. William war schon bei der Arbeit. Ihn würde ich bloß abends beim Essen sehen, zum letzten Mal. Nach dem Essen würde ich gehen. Ich frühstückte mit Alice und sah sie bemitleidend an. „Warum siehst du mich so an?", fragte sie. „Wie schaue ich denn?" „Als wäre etwas Schlimmes passiert." „Es ist nichts. Iss ruhig weiter." Mit schiefem Kopf sah ich ihr weiter beim Essen zu. Sie wird zusammenbrechen, wenn sie erfährt, dass ich fort bin. Im Auto brachte sie mich wieder zur Schule. Kurz bevor ich die Tür zuschlug sah ich Alice an. „Danke für's Fahren, Mum", sagte ich. Noch nie zuvor hatte ich 'Mum' zu ihr gesagt. Es zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. „Viel Spaß in der Schule, Liebling", ihr stiegen Tränen in die Augen.
Am Nachmittag war ich für kurze Zeit alleine zu Hause. Ich hatte früher Schulschluss und war mit dem Bus heimgekehrt. Ich wusste, dass William und Alice ein wenig Geld zu Hause hatten, für alle Fälle. Ich war soweit gekommen, dass ich Geld brauchte. In ihrem Schlafzimmer öffnete ich daher die Schublade, in der das Geld verstaut war. Es waren mehrere hundert Euro, die ich schließlich in meinen Händen hielt. Ich packte sie in meine Reisetasche, die ich in der vorherigen Nacht gepackt hatte. „Tut mir leid", flüsterte ich, weil ich ein schlechtes Gewissen bekam. Mir stiegen Zweifel auf, diese Stadt zu verlassen. Ich habe alles, was ich brauche. Zwar nicht meine wahren Eltern, aber wundervolle Pflegeeltern. Ich riskiere mein Leben und das von Damien, um zu meinen Eltern zu kommen, die ich auch nach meinem Tod treffen könnte. Ich versuchte nicht mehr daran zu denken, wie falsch das alles sein könnte und begann etwas für den Abend zu kochen.
Alice kam nach Hause, dann William. „Das hast du zauberhaft zubereitet", sagte William, als er das Essen, das ich vorbereitet hatte, auf dem gedeckten Tisch sah. Es waren zwei Salate und ein Auflauf. „Aus welchem Grund bereitest du uns so ein Essen vor?", fragte Alice. „Mum, Dad, es wurde Zeit, dass ich nach all dem, was ihr für mich getan habt, etwas zurükgebe. Ihr habt mich gerettet, als ich hilflos im Kinderheim saß und weinte. Ihr habt mir ein Zuhause bereitgestellt und mir all eure Liebe geschenkt. Dafür schenke ich euch dieses Essen. Ich liebe euch", meine Stimme bebte. Wir setzten uns alle gemeinsam an den Tisch und aßen, mehrere Stunden. Ich vergaß alles, was geschehen würde und konnte die Zeit mit Alice und William in allen Zügen genießen.
Ich hatte mich rausgeschlichen, mit all meinen Sachen. Ich hatte keinen Brief oder Zettel hinterlassen, war aber kurz davor gewesen. Schwankend wartete ich auf Damien. Er verspätete sich. Zögert er? Hat er Zweifel? Ist er abgehauen? Draußen war es finster. Nur das Licht der Nachbarn gegenüber leuchtete. Ich hatte Angst, sie würden mich sehen, wie ich mit Damien wegfahre und zog mir meine Kaputze über den Kopf. Wo bleibt er? Er hat kein Handy, hält nichts von der heutigen Technik, es gibt keine Chance, ihn irgendwie zu erreichen. Obwohl, ich habe seine Telefonnummer! Irgendwann habe ich sie mir mal in meine Jacke gesteckt, dachte ich und kramte in meinen Jackentaschen. Es begann zu schneien, während ich suchte. Ich fand einen kleinen, völlig zerknitterten Zettel in meiner Jackentasche, aber der Schnee wurde stärker und der Zettel wurde weich, sodass ich nichts mehr erkennen konnte. Mein Füße frierten, ebenso meine Finger. Wir wollten doch heute Nacht abhauen? Oder habe ich mich geirrt und wir wollten erst morgen gehen? Nein, es war für heute geplant. Ich überlegte, wieder ins Haus zu gehen und weiter zu schlafen, als wäre nichts gewesen, als Damiens Auto plötzlich vorfuhr. „Schnell", sagte ich und öffnete den Kofferraum seines Autos. Er verstaute meine Taschen im Kofferraum und wir stiegen vorne ins Auto. Ich schenkte meinem zu Hause noch einen schnellen Blick, um mich zu verabschieden und ließ dann alles hinter mir. „Ich dachte schon, du würdest nicht kommen." „Ich komme immer, wenn ich es sage. Ich musste nur noch etwas erledigen. Ich hoffe, du bist bereit auf die langen Fahrten und die Nächte in mikrigen Hotels", sagte Damien. „Ich bin für alles bereit", sagte ich und empfand ein wenig Freude, auf die bevorstehende Zeit. Damien grinste mich von der Seite an und trat auf's Pedal. Das Auto wurde immer schneller. Ich spürte den Adrenalin in mir.

Ganz nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt