Kapitel 4

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Für eine kurze Zeit hatte ich Damien gekannt. Er hatte mich im Pflegeheim besucht. Er gab sich als Helfer aus. Von Tag zu Tag hatte ich eine starke Bindung zu ihm aufgebaut. Er war die einizige Person, der ich vertraute, nach so kurzer Zeit. Aber eines Tages kam er nicht. Er war wie vom Erdboden verschluckt und keiner wusste, wer er war. Niemand hatte ihn gekannt, außer mir. Ich wurde verlassen, erneut. Ich hatte ihn jeden Tag vermisst und hoffte, er würde wiederkommen. Ich vermisste unsere Gespräche, den Spaß, den wir miteinander hatten und meinen Bruder. Ich sah ihn als großen Burder an, einen Burder, den ich nie hatte. Diese Erinnerungen kamen mir nach und nach in den Sinn, als ich vor ihm stand und er mir erzählt hatte, er hätte meine Elern umgebracht. Für mich war es keine Erleichterung, dies erfahren zu haben. Er hatte mich im Stich gelassen und ordnete sich dann wieder in meinem Leben unter, um mir meine Kräfte zu geben, um mich zu meinen Eltern zu bringen. Er möchte seine Schuldgefühle loswerden, mehr nicht. „Du hast meine Eltern getötet?", fragte ich gelassen. „Ja", antwortete er. „Du hast mich im Pflegeheim verlassen?" Er sah mich überrascht an, gab dann aber ebenfalls ein ‚Ja' von sich. „Du bist wieder in mein Leben gekommen und gabst mir meine Kräfte." Ich trat ihm einen Schritt näher. „Du hast mir also meine Kräfte gegeben und willst mich jetzt zu meinen Eltern bringen?" „Ja." „Wieso?" „Du hast es verdient." „Du meinst wohl, du möchtest nicht mehr dieses Gefühl haben, mir die Eltern genommen zu haben. Du hast mir mein Leben zerstört. Und jetzt willst du dich vom schlechten Gewissen befreien. Willst mir zu meinen Eltern verhelfen und dann endlich gehen, ohne weiter Schuldgefühle zu haben." „Nein, Layla." „Nein? Ist das nicht so? Denn das hast du mir gerade gesagt, ich habe es bloß weiter ausgebaut. Du sprichst ja nicht mit mir. Ich muss nichts erfahren, weder über meine Eltern, noch über dich." „Nein, du verstehst mich ganz falsch." „Meinst du, du hast jetzt noch einen Platz in meinem Leben verdient, nach all dem, was du mir angetan hast? Und das Schlimmste ist, ich habe mich dir anvertraut. Damals und auch jetzt und ich bereue es so sehr, es getan zu habe." „Layla, nein. Bitte, schließ mich nicht wieder aus." „Habe ich dich jemals von meinem Leben auseschlossen? Habe ich dir im Pflegeheim gesagt, dass du gehen sollst? Nein! Und ich habe genug davon, verletzt zu werden." Seine Kette, mit einem weißen Edelstein, erleuchtete in mehreren Blautönen. Die Kette trägt er immer um seinen Hals. Sie scheint ihm viel zu bedeuten. Ich riss ihm die Kette vom Hals und er fiel auf seine Knie. „Meine Kette. Ich kann ohne sie nicht", er bekam einen Hustenanfall und konnte sich auch nicht mehr auf den Knien halten. „Ohne sie überlebe ich nicht." Ich legte mir die Kette um den Hals. Der Edelstein nahm wieder seine normale Farbe an. „Es ist besser so. Ich behalte sie lieber", sagte ich und ging zur Bushaltestelle, um von da aus den nächsten Bus zur Schule zu nehmen.
Mich plagte ein unwohles Gefühl mit der Kette um den Hals. Sein Leben hängt mir um den Hals. Soll ich es ihm wiedergeben? Es ist vermutlich schon zu spät. Vor genau zwei Stunden und sechs Minuten habe ich sie ihm abgenommen. Zum Sterben braucht man nicht viel Zeit. Wie viel Zeit hatten meine Eltern wohl? Wie hatte er sie umgebracht? Mit einem Messerstich ins Herz hatten meine Eltern sicher nur einige Sekunden bis zu ihrem letzten Atemzug. Warum hatte mein Vater Damien gesagt, er solle meine Mutter und ihn umbringen? Warum wurde ich verflucht? Und von wem? Hätte ich nicht ein ganz normales Leben führen können, wie alle anderen hier. Ich ließ meinen Blick durch die Klasse schweifen. Sie alle haben ein glückliches Leben. Klar, es gibt Höhen und Tiefen, aber sie haben keine Kräfte, sie haben noch alle ihre Eltern, sie wohnen in keiner Pflegefamilie und sie wurden nicht Jahr zu Jahr von immer wieder derselben Person verletzt. Ich dachte an die Folgen, wenn Damien sterben würde. Ich hätte niemanden mehr, außer meinen Pflegeeltern. Keiner könnte mir den Weg zu meinen wahren Eltern zeigen. Ich könnte mit keinem über meine Kräfte sprechen. Ich würde meine Eltern bis zu meinem Tod nicht wiedersehen. Meine ganze Zukunft hing davon ab, ob Damien starb. Aber er ist schon tot, sagte ich mir. Es ist zu spät. Ich kann ihm seine Kette nicht wieder um den Hals legen und er lebt weiter. Den gesamten Vormittag über dachte ich über die Kette nach, über Damien und wie ich ohne ihn leben sollte. Ich würde depressiv werden und sterben.
Nach der Schule konnte ich nicht anders, als herauszufinden, ob Damien tot ist. Ich ging ins Krankenhaus und fragte nach ihm. Er wurde nicht eingeliefert. Ich hätte ihm die Kette nicht nehmen sollen! Ich bereute es, ihn getötet zu haben. Schuldgefühle breiteten sich aus, die ich nie wieder losbekommen würde, wenn er tot ist. Ich rannte zu der Bank, auf der er heute morgen saß. Schlafend saß er wieder auf ihr. Oder ist er tot? Ich rüttelte ihn am Arm. Er war ganz blass im Gesicht. Er ist tot, dachte ich. Langsam öffneten sich seine Augen. Mir fiel eine Last vom Herzen. Ich setzte mich neben ihn. „Gib sie mir wieder, bitte." Ich wollte sie ihm wiedergeben, aber was er mir angetan hatte, hatte ich nich nicht verdaut. „Damit du wieder gehen kannst?", fragte ich. „Damit ich bleiben kann und dich zu deinen Eltern bringen kann." „Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann." „Ich bin ein ganzes Jahr schon bei dir. Ich möchte dich in Kontakt mit deinen Eltern bringen und nicht nur, weil mich meine Schuldgefühle plagen." „Warum hast du mich nicht sterben lassen?", fragte ich und mir stiegen Tränen in die Augen. „Dein Vater hatte mich darum gebeten und ich bin auf dich angesetzt. Ich habe für dich zu sorgen. Ich habe alles verloren, was ich jemals hatte, nur du bist noch da. Und wenn ich sterben sollte, dann erst, wenn du zurück bei deinen Eltern bist und nicht vorher." Ich nahm mir die Kette ab. Der Edelstein färbte sich tief-schwarz. es ist eine eigenartige Kette. Ich legte sie Damien sanft um den Hals und er bekam wieder Farbe im Gesicht. Ich hörte ihn atmen, spürte seinen Atem auf mir. Und dann war da dieser Moment, den man nur aus Filmen kennt: Sein Gesicht war mir ganz nah. Unsere Lippen waren nur wenige Zentimeter weit auseinander und unsere Blicke wurden zu einem. Es hätte etwas kommen sollen. Aber ich verhinderte es. „Warum bist du nicht älter geworden?", fragte ich und lehnte mich wieder zurück. Er war ganz baff und konnte mir kaum antworten. „Nach meinem Tod bin ich... nicht mehr gealtert." Es war Zeit zu gehen. Habe ich ihn jetzt wieder verloren? Wegen diesem einen Moment? Ich hätte mir am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Hätte ich ihm die Kette bloß von hinten umgelegt, hätte es den Moment nie gegeben! Dabei wollte ich gar nicht darauf hinaus. Warum hat er mich nicht geküsst? „Ich geh jetzt. Ich habe Alice gesagt, dass ich heute früher von der Schule komme und das ist schon längst vorbei." Er ist älter, sollte er nicht mit solchen Situationen umgehen können? Ich kann es nicht. Sollte er es nicht ansprechen? Tat er nicht. Er ließ mich mit wirren Gefühlen nach Hause gehen.
Als ich mein Zimmer betrat, verspürte ich Erleichterung. Laut atmete ich aus, doch hörte daraufhin Wasser strömen. In meinem Badezimmer hatte ich wegen meiner Kräfte das Wasser loslaufen lassen. Schnell stellte ich es ab, bevor es über das Waschbecken laufen konnte. Im Bett ließ ich den Tag Revue passieren: Zuerst ließ ich Damien beinahe sterben und dann küsste ich ihn fast! Auch, dass er meine Eltern getötet hat, konnte ich nicht ganz glauben. Aber ich musste es einsehen. Es war die Wahrheit. Alice kam in mein Schlafzimmer. „Da steht ein Junge vor unserem Haus. Gehört er zu dir?" „Nein, ganz bestimmt nicht", antwortete ich lachend. Mein Zimmer hat ein Fenster zur Straße. Ich stand vom Bett auf, stellte mich ans Fenster und sah mich kurz auf der Straße um. Damien stand da. Wie immer in seiner schwarzen Lederjacke, die er nie abzunehmen scheint und einer seinen dunklen Jeans. Seine Haare sahen nicht so ordentlich aus, wie ich es sonst von ihm kannte. „Nein, ich kenne den Jungen nicht", sagte ich und wickelte mich wieder in meiner Bettdecke ein. „Er kennt aber deinen Namen, deine Adresse und man sieht ihm an, dass es ihm leid tut, was er dir auch angetan hat." „Hast du mit ihm gesprochen?" „Nur kurz. Rede mit ihm. Er scheint sehr nett zu sein." Wir hatten abgemacht, dass er mich niemals zu Hause besuchen würde. Anscheinend musste ich ihm das nochmal erklären. Genervt stieg ich aus dem Bett, zog mir Jacke und Schuhe an und ging aus dem Haus. Wie ich es hasse auf Menschen auf der Straße zuzugehen, die auf einen warten. „Wir hatten eine Abmachung. Schon vergessen?" Ich steckte meine Hände in die Jackentaschen. „Nein. Aber ich muss mit dir sprechen." „Worüber?" „Heute Nachmittag." Er deutet auf den Kuss hin. „Ich hätte dich nicht in so eine Lage versetzen sollen." „Was für eine Lage?", fragte ich ahnungslos, gespielt ahnungslos. „Du weißt, was ich meine." „Tut mir leid, ich weiß es nicht. Was ist los mit dir?", ich lachte wie blöd, dabei war ich nicht in Stimmung, um zu lachen. „Du weißt nicht, worüber ich mit dir sprechen möchte?", hackte er nach. „Ich habe keine Ahnung." „Dann hab ich es wohl falsch verstanden." „Sag schon, was denn?" „ch dachte, wir hätten uns beinahe geküsst", sagte er. Ich lachte daraufhin noch lauter als vorhin. Mir war nicht bewusst, wie gut ich ein Lachen vorspielen konnte. „Wir beide, fast geküsst?", ich lachte noch immer, „Nie im Leben!" Ich atmete kaum noch Luft ein. Ich fühlte etwas ganz anderes. Ich hatte da mehr Gefühle für Damien, als bloß Freundschaft. Aber ich konnte das Treffen mit meinen Eltern nicht auf's Spiel setzen, um mit Damien zusammen zu sein. Es würde nur Probleme bereiten, die mir ungünstig sind. Freundschaft, mehr nicht.

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