Kapitel 16: Der Ostwald

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Ich wirbelte zum Eingang der Lichtung herum. Dort stand eine braune Stute. Und auf deren Rücken ein Mädchen, das die Augen weit aufgerissen hatte, als hätte sie gerade einen Geist gesehen. Oder vier leibhaftige Einhörner. Nicht nur irgendein Mädchen. Es war Charlotte.

„Fuck.", flüsterte ich.

„Charlotte, ich kann dir das erklären.", sagte Nia ruhig. Wie sie es schaffte, gerade nicht absolut die Nerven zu verlieren war mir ein Rätsel.

Charlotte stotterte. „Ich- wollte- weil wir wollten- ich- du- Nacht- Mathe- Mathehaus- Sorgen."

„Scheiß die Wand an." Akira hatte die Augen geschlossen.

Mein Herz hatte sich in Richtung meiner Knöchel verabschiedet.

Auch Charlotte machte den Anschein, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Ihre Stute befand sich schon seit zwei Minuten in Schockstarre.

„Warum hast du mir nichts davon gesagt?", fragte sie dann und konnte den Blick nicht von unseren Einhörnern lösen.

„Es tut mir leid.", flüsterte Nia. Sie schien den Tränen nahe. Erst jetzt dachte ich darüber nach, wie schlimm es für sie gewesen sein musste, jahrelang das alles für sich behalten zu müssen. Und wie verletzt Charlotte davon gewesen sein musste, dass Nia jetzt so viel Zeit bei uns verbrachte.

Fast schon zaghaft ließ sie sich von ihrer Stute gleiten, um auf uns zuzukommen.

Nia liefen die Tränen über die Wangen. „Es tut mir so leid."

Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was in beiden gerade vorging, als sie sich in die Arme schlossen. Nia hemmungslosen Schluchzern ausgesetzt und Charlotte auch mit Tränen in den Augen. Unsere Einhörner und wir standen betreten daneben.

Doch plötzlich wurden Charlottes Augen leer und fielen zu. Nia strauchelte unter ihrem Gewicht.

„Was zum-"

Erst jetzt bemerkte ich Akira, die mit den Fingerspitzen Charlottes Hand berührt hatte und mit der anderen Planet berührte. Charlottes Körper hing jetzt wie ein nasser Sack auf Nia.

„Was hast du mit ihr gemacht?!" Nia klang panisch.

„Sie schläft nur. Sehr tief." Akira half Nia schnell, Charlotte zum Unterstand zu bugsieren, wo sie sie ins Stroh legten.

Sira hatte in der Zwischenzeit Charlottes Stute eingesammelt und sie am Unterstand angebunden. Cinnamon, wenn ich mich richtig erinnerte. Sira redete beruhigend auf sie ein, denn die Einhörner schienen der Warmblutstute nicht ganz geheuer.

„Wie soll ich ihr das erklären?", Nias Stimme klang dünn und verzweifelt. „Wie soll ich ihr morgen in die Augen schauen, wenn sie sich wieder daran erinnert, dass ich ihr all das nie gesagt habe?"

Ich schluckte. „Gar nicht."

Jetzt galten die fragenden Blicke mir.

„Nia. Unter der losen Diele in meinem Zimmer ist ein Einmachglas. Fünf Tropfen vom Vergessenstrank und sie weiß davon nichts mehr, wenn sie aufwacht."

Nias Augen weiteten sich ungläubig. „Spinnst du?! Ich füll doch Charlotte nicht mit Vergessenstrank ab, das... das..." Ihre Worte wurden wieder zu Schluchzern. „Warum hab ich nur vergessen, dass wir Mathe lernen wollten?"

Wir anderen tauschten undeutbare Blicke. Wir mussten langsam wirklich los, wenn wir nicht wollten, dass es mitten in der Nach war. Izzy hatte sicher nicht mehr allzu lange Zeit.

Sira hockte sich neben Nia. Was auch immer heute Nachmittag gewesen war, irgendeinen Draht hatten die beiden zueinander gefunden. „Ich bin da. Es ist alles gut. Wir geben ihr den Trank und gehen mit ihr zurück. Das bekommen wir hin." Leise redete Sira weiter auf Nia ein, die ihrer Freundin über die Haare streichelte, nachdem sie ihr vorsichtig den Helm vom Kopf gezogen hatte.

Die Einhörner vom Westwald || Magischer FrühlingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt