2 - Die Reue

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Ältester Bruder David Fox

Der Esstisch war groß und aus dunklem, schwerem Holz, so alt wie das Haus selbst, in dem wir aufgewachsen waren. Er hatte unzählige Geschichten in sich gespeichert – Erinnerungen an fröhliche Familienessen, hitzige Diskussionen und leises Lachen. Jetzt jedoch war er nichts weiter als ein stiller, kalter Zeuge der Leere, die uns umgab. Wir saßen alle um ihn herum, Vater an der Stirnseite, wie es immer gewesen war, und meine Brüder und ich auf den Plätzen, die wir seit Kindheitstagen eingenommen hatten. Doch an diesem Morgen war nichts so, wie es früher gewesen war.

Keiner von uns sprach. Die Stille im Raum war bedrückend, fast erdrückend. Nur das gelegentliche Klirren des Bestecks auf den Tellern oder das Rascheln einer Zeitung durchbrach die beklemmende Ruhe. Jeder von uns war tief in Gedanken versunken, gefangen in einer Welt, die sich seit Jahren nicht mehr miteinander geteilt hatte.

Vater starrte vor sich hin, seine Augen müde, eingefallen, als hätte die Schwere der Jahre und der Entscheidungen ihn noch tiefer in sich zurückgezogen. Er war nicht mehr der Mann, der er einmal gewesen war – stark und unerschütterlich. Seit dem Tod unserer Mutter war etwas in ihm zerbrochen, und es schien, als hätten wir alle die Bruchstücke zu spüren bekommen, nur keiner von uns wusste, wie wir sie hätten zusammensetzen sollen.

Marcus, der zweite von uns Brüdern, starrte schweigend auf seinen Teller. Seine Faust ruhte auf dem Tisch, als müsse er sich daran festhalten, um nicht von der Schwere seiner Gedanken erdrückt zu werden. Ich wusste, was in ihm vorging, auch wenn er es nicht aussprach. Die Trauer, die Schuld, die Reue – all das lag wie ein unsichtbares Netz um uns herum. Keiner von uns hatte je wirklich darüber gesprochen. Wir hatten uns in unseren eigenen stillen Welten verschanzt, unfähig, den Mut aufzubringen, uns der Wahrheit zu stellen.

Und dann war da ich. David, der älteste Bruder. Derjenige, der immer geglaubt hatte, er müsse der Fels in der Brandung sein. Der, der dachte, er könnte all das ignorieren, was in den Tiefen seines Herzens brodelte. Doch in Wahrheit war ich genauso zerrissen wie die anderen. Ich starrte auf meine Hände, als könnten sie mir die Antworten auf all das geben, was ich falsch gemacht hatte.

In diesem Moment dachte ich an sie. Ellania.

Der Stuhl, an dem sie früher gesessen hatte, war leer. So leer wie die Lücke, die sie in meinem Leben hinterlassen hatte. Seit Jahren war sie nicht mehr hier, und doch war sie in meinen Gedanken präsenter denn je. Die Bilder von ihr drängten sich mir auf, immer und immer wieder. Sie, wie sie an diesem Tisch saß, ein unschuldiges kleines Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünschte, als dazuzugehören. Und wir, die wir sie fortgeschickt hatten.

Ich dachte an den Tag zurück, an dem wir sie fortschickten, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt gewesen. Keiner von uns sprach das Wort "Wegschicken" laut aus, aber genau das hatten wir getan. Ellania, unsere jüngste Schwester, war zu einer unerträglichen Erinnerung geworden – an den Schmerz, an den Verlust unserer Mutter, an all das, was in unserem Leben falsch gelaufen war. In unserem verzweifelten Versuch, mit dem Schmerz fertig zu werden, hatten wir sie aus unserer Mitte verbannt, als wäre sie der Grund für all unser Unglück gewesen.

Doch jetzt, Jahre später, wusste ich es besser. Ellania war nie die Ursache gewesen. Sie war das unschuldige Opfer unserer Unfähigkeit, mit unserem eigenen Schmerz umzugehen. Und jetzt war sie fort, ihr Platz am Tisch leer, aber ihr Bild in meinem Kopf schmerzlich präsent.

Ich hatte die Medienberichte über sie gesehen. Alle hatten sie gesehen. Eine mächtige Frau, klug, stark und erfolgreich. Sie hatte sich aus dem Nichts zu einer beeindruckenden Figur in der Geschäftswelt emporgearbeitet, und die ganze Welt schien sie zu bewundern. Aber die Berichte zeigten nicht das ganze Bild. Was mich wirklich traf, war nicht nur ihr Erfolg, sondern die Art und Weise, wie sie beschrieben wurde. Als eine Frau voller Wärme und Mitgefühl. Jemand, der trotz all der Härten, die das Leben ihr entgegen geworfen hatte, ihren Optimismus und ihre Liebe zu den Menschen bewahrt hatte.

Wie ironisch war es, dass wir, ihre eigene Familie, diese Seite von ihr nie wirklich gesehen hatten?

Die Medien zeichneten das Bild einer Frau, die ihren Angestellten Respekt entgegenbrachte, die sich für die Schwachen einsetzte und immer mit einem Lächeln auf den Lippen durch die Welt ging. Das war die Frau, die Ellania geworden war. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wusste ich, dass sie diese Qualitäten schon immer gehabt hatte. Wir hatten sie nur nie wirklich gesehen. Oder besser gesagt, wir hatten uns geweigert, sie zu sehen.

Als Kinder waren wir so in unserer eigenen Trauer und unserem Verlust gefangen, dass wir nicht erkennen konnten, wie sehr sie uns brauchte. Stattdessen hatten wir sie immer wieder weggestoßen. Ich erinnere mich an unzählige Male, in denen sie versuchte, uns nahe zu sein. Sie brachte uns Tee, wenn wir krank waren, half uns mit den kleinsten Dingen und versuchte verzweifelt, in unsere kalte, harte Welt einzutreten. Doch jedes Mal, wenn sie es versuchte, stießen wir sie zurück. Nicht, weil wir sie nicht liebten, sondern weil wir nicht wussten, wie wir mit dem umgehen sollten, was sie in uns auslöste.

Ein Bild kam mir in den Sinn, eines der vielen, das mich nachts wach hielt. Ich war damals krank gewesen, fiebernd im Bett. Ellania hatte sich ins Zimmer geschlichen, leise wie ein Schatten, mit einem Becher Tee in der Hand. Sie stand zögerlich an der Tür, als wüsste sie nicht, ob sie eintreten sollte. Ich tat so, als würde ich sie nicht sehen, obwohl ich wusste, dass sie da war. Ich tat es aus Angst – Angst, den Schmerz in ihren Augen zu sehen, der mich an den Verlust unserer Mutter erinnerte. Sie stellte den Becher auf meinen Nachttisch und ging, ohne ein Wort. Ich hatte ihr nicht einmal ein „Danke" gesagt.

Jetzt, Jahre später, würde ich alles dafür geben, die Zeit zurückzudrehen. Ihr zu danken. Sie in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, dass ich sie liebe. Dass sie immer ein Teil von uns war und immer sein wird. Aber diese Worte kamen damals nicht über meine Lippen, und ich fürchte, sie werden es vielleicht nie tun. Denn sie ist nicht mehr hier.

Meine Brüder sprechen selten über sie, aber ich weiß, dass auch sie von denselben Gefühlen gequält werden. Wir alle haben auf unterschiedliche Weise versagt, und das spüren wir jetzt. Marcus, der sich immer als der stärkere von uns beiden präsentiert hat, leidet im Stillen. Er starrt oft auf die Berichte über Ellania, als könnte er nicht fassen, dass sie all das ohne uns geschafft hat. Wir hätten Teil ihres Lebens sein sollen, Teil ihres Erfolgs. Aber stattdessen sind wir nur Zuschauer geworden, distanziert, abgeschnitten von allem, was sie erreicht hat.

Und trotz allem kann ich nicht leugnen, dass ein Teil von mir sich wünscht, wieder ein Teil ihres Lebens zu sein. Es geht nicht nur um ihren Erfolg, auch wenn dieser beeindruckend ist. Es geht darum, dass ich meine Schwester zurück will. Ich will die Chance, die Worte zu sagen, die ich damals nicht sagen konnte. Ich will sie kennenlernen, wirklich kennenlernen, nicht die Frau, die die Welt durch die Medien sieht, sondern die Schwester, die ich verloren habe.

Doch vielleicht ist es zu spät. Vielleicht hat sie uns längst vergessen. Oder, schlimmer noch, vielleicht hat sie uns verziehen und ist einfach weitergezogen, weil wir für sie keine Bedeutung mehr haben. Diese Vorstellung quält mich.

Aber tief in mir hoffe ich – hoffe, dass es einen Weg gibt, dass ich eines Tages vor ihr stehen kann und ihr sagen kann, wie leid es mir tut.

Schatten der MachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt