„Wir sind später in der Kantine. Es gibt neue Geschichten."
Wie fast jeden Mittag treffen sich Marco, Yele und ich hier, an unserem üblichen Tisch in der Zirkuskantine, die nur aus einem improvisierten Wagen neben dem Vorzelt und ein paar Tischen besteht. Die Luft ist kühl und feucht, es riecht nach Tee, irgendwie nach Winter und nach dem Holz der Bänke und Tische, die vom Regen noch leicht feucht sind.
Obwohl ich mich als ruhigen, eher zurückhaltenden Typ beschreiben würde, fasziniert mich jede neue Geschichte, die ich von den beiden höre. Ich würde niemals über jemanden urteilen oder mich an den Mobbinggeschichten beteiligen, die hier so herum kursieren, aber die Art und Weise, wie Marco und Yele – selbst Artisten, aber besser im Geschichtenerzähler als ich – über die anderen Artisten reden, ist zu spannend, um nicht zuzuhören. Es sind nicht bloß Gerüchte, sondern kleine Kunstwerke, die Charaktere lebendig werden lassen.
Dabei geht es – in etwa neun von zehn Fällen – um Nikita.
Es scheint, als würde jede zweite Geschichte, die im Zirkus erzählt wird, mit ihm zu tun haben. Marco, ein Italiener, der einen Kopf kleiner ist als ich und in der Manege mit dem Trapez auftritt, erzählt aufgeregt: „Ich hab heute gesehen, wie er an seiner neuen Nummer gearbeitet hat – er plant als nächstes, Strapaten zu machen."
„Nikita macht Strapaten?"
„Der macht alles, scheint so."
Nikita ist in gewisser Weise zu einem Mysterium für mich geworden. In der Realität komme ich ihm nie nahe genug, um all das selbst zu erleben; doch in unseren Geschichten lebt er in grellen Farben, unnahbar und geheimnisvoll, wie eine Legende, die keiner wirklich greifen kann.
„Schon krass, was der Typ alles kann. Egal was er macht, es sieht immer krasser aus, als es eigentlich ist."
„Ja, weil er schauspielert," ergänzt Yelena, eine Drahtseilartistin aus Ukraine, sehr talentiert in dem, was sie macht. „Er könnte wahrscheinlich sogar einfach nur dastehen und man würde trotzdem nicht wegsehen wollen."
Seine Auftritte sind alles andere als gewöhnlich. Nikita ist bekannt dafür, fast jede zweite Woche mit einer neuen Nummer aufzutreten – und es geht dabei nicht nur um kleine Variationen. Während andere Artisten oft Monate brauchen, um eine neue Show zu erarbeiten, die am Ende kaum von der letzten zu unterscheiden sind (was bei Yele der Fall ist, die auf ihrem Drahtseil nicht wirklich viel Variation einbringen kann), bringt Nikita stets etwas völlig Unerwartetes und Überraschendes auf die Bühne.
„Der kommt einfach plötzlich mit Sachen, für die die meisten Artisten mindestens ein halbes Leben trainieren. Der Typ kann wirklich alles, Leute."
Ein Teil von mir hat in letzter Zeit eine Art übermäßigen Respekt vor Nikita entwickelt, fast schon eine ungesunde Ehrfurcht. Ich bin fast froh, dass ich nichts mit ihm zu tun habe, weil ich ihm sowieso nicht in die Augen sehen könnte, und andererseits will ich nichts mehr, als mit ihm befreundet zu sein. Aber dazu wird es niemals kommen, denn ich würde es niemals wagen, ihn anzusprechen, und umgekehrt würde Nikita niemals bemerken, dass ich überhaupt existiere – der unsichtbare Josh im Vorzelt.
Er wäre einfach zu hoch für mich, und ich wüsste ohnehin nicht, was ich ihm sagen sollte. Es ist besser so. Denn tief in mir weiß ich, dass ich ihm nie auf Augenhöhe begegnen könnte.
Ich lausche und sauge jedes Detail auf. Ein Teil von mir beneidet Nikita um seine ständige Weiterentwicklung und seine Disziplin. Auch die Art, wie er sich scheinbar mühelos ins Rampenlicht stellt und eine stille Anziehungskraft auf alle ausübt, beeindruckt mich. Selbst wenn ich den spektakulärsten Trick beherrschen würde, würde mich niemand bemerken. Ich bin immer derjenige, der beobachtet, der auf Distanz bleibt, und irgendwie ist es angenehm, mich in diesem kleinen Kreis mit Marco und Yele sicher zu fühlen.
Von hinter mir dringt eine ruhige Stimme herein (ruhiger als erwartet und dennoch lässt sie mich sofort hellhörig aufsetzen). Ich weiß nicht, ob es das Selbstbewusstsein in der Stimme ist oder ob es andere Merkmale gibt, aber ich finde, man hört der Stimme schon an, ob es ein Artist ist. Eine weiche, entspannte Stimme. Als ich meinen Kopf drehte – schließlich sind Artisten die interessanteren Leute in diesem Zirkus und ich würde mich selbst als Fan von jedem hier bezeichnen, sehe ich in Nikitas Augen, und ein warmer, doch irgendwie schockierender Schauer überkommt mich, wie ein Blitzschlag, der mich regungslos macht.
Er betritt gerade den Kantinenbereich, und es ist, als würde die gesamte Kantine innehalten und alle würden auf ihn gerichtet sein, auch wenn es nur einen winzigen Moment dauert, der sich wie eine Ewigkeit anfühlt. Er hat diese magnetische Aura.
Ich sitze starr, unfähig, meinen Blick abzuwenden, und fühle mich plötzlich, als hätte ich noch nie jemandem wie ihm begegnet. Er läuft direkt an mir vorbei, und erst jetzt, aus der Nähe, bemerke ich, dass er Piercings hat – zwei Ringe an der Unterlippe, einen links und einen rechts.
Sein Lächeln ist Zucker. Er ist so makellos schön, dass ich gar nicht aufhören kann zu starren. Ich sehe sofort weg als Blickkontakt entstand – er muss gespürt haben, dass ich gestarrt habe.
Das Gespräch um mich herum geht weiter, doch ich fühle mich plötzlich abwesend. Marco erzählt gerade von einem Clown aus einem anderen Zirkus, der eine neue, spektakuläre Feuershow plant, bei der er sich selbst in Flammen setzt – was natürlich für allgemeines Gelächter sorgt.
Doch ich bin in Gedanken ganz woanders; mein Kopf schwirrt von diesem kurzen Moment, in dem Nikita mich angesehen hat, als wäre ich wirklich ein Teil dieser Welt und nicht nur der stille Beobachter am Rand. Es ist eine seltsame Mischung aus Ehrfurcht und Neugier, die mich unruhig zurücklässt.
DU LIEST GERADE
Nikita
Romance„Ich hatte noch nie was mit Nikita." Fast alle tranken ihren Shot. Alle, stellte ich fest, außer mir und meinen Freunden. Nikita wirkte völlig unbeeindruckt, saß da mit seinem typischen, amüsierten Lächeln, als könnte ihm niemand etwas anhaben. „Sol...