Prolog

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„Mama, ich würde hier ungern wohnen," flüstert ein Kind in der Nähe. Die Worte hallen in mir nach, während ich den Koffer absetze und die Umgebung auf mich wirken lasse. Der Zirkusplatz liegt im grauen Nieselregen, die Wagen sind in schimmernden Farben gestrichen, die durch den feuchten Dunst hindurch leuchten. Es ist eine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit. Und mitten in dieser Kulisse stehe ich nun - nicht als Artist, nicht als Zuschauer, sondern als Verkäufer.

Ich habe keine außergewöhnlichen Talente, nicht die Fähigkeiten derer, die hier auftreten und das Publikum staunen lassen. Aber ich kann beobachten, und die Geschichte dieses Ortes will ich erzählen. Das hier könnte mein Buch werden. Ein Buch über eine Welt, die mich seit Jahren fasziniert - seit dieser Zirkus vor Jahren zum ersten Mal in unserer Stadt auftrat und mich in eine Traumwelt zog. Wenn ich kein Zirkusdirektor sein kann, dann vielleicht wenigstens ein Chronist dieses magischen Mikrokosmos.

Gabriel, einer meiner neuen Kollegen, zeigt mir gerade den Toilettenwagen - ein unvermeidlicher erster Stopp nach der zweistündigen Zugfahrt aus Stuttgart. Der Wagen ist knallig bemalt, das Logo des Zirkus prangt in einer geschwungenen Schrift darauf. Er steht auf großen Rädern, und die Tür ist so hoch, dass man mit einem großen Schritt hineintreten muss.

Plötzlich springt ein Junge heraus, ganz unerwartet, und stolpert fast in mich hinein.

Schlank, wildes Haar, um die Augen schwarzer Kajal, der sich geheimnisvoll über sein Gesicht zieht - Show-Make-up. Gott, wie aufregend!

Er ist die Art Mensch, die gut aussieht, obwohl es ihm sichtlich egal ist. Reine Haut, leicht gebräunt, mit ein paar Sommersprossen auf den Wangen. Die hochgekrempelten Ärmel seines Sweaters geben den Blick auf seine dünnen Arme frei.

„Alter," sagt der Typ, dessen Namen ich mir nicht merken kann, weil er polnisch ist. „Hat er nicht gleich seine Nummer?"

„Ach," lacht Gabriel, „der zieht sich schnell um." Und fügt leiser und mit einem schmutzigen Grinsen hinzu: „Der ist geübt im Ausziehen."

Gossip ist hier so eine Sache - das merke ich gleich zu Beginn. Jeder spricht über jeden, und jeder weiß, dass über ihn gesprochen wird. Jeder weiß, wer mit wem was hatte, wer wessen Exfreund oder -freundin ist. Da muss ich mich erst einmal einfinden.

Ich nehme mir vor, mich von Anfang an richtig zu verhalten, damit, wenn über mich gesprochen wird, wenigstens etwas Gutes dabei herauskommt.

Weil sie dringend jemanden brauchen - mitten in den Shows in München ist jemand einfach gegangen (krass, dass das hier so ein Ding ist) - beginne ich nicht wie alle anderen beim Aufbau des Zirkus, sondern komme mittendrin an, während die Show läuft.

„Hast du gesehen," sprechen sie weiter, als wir zu meinem Abteilwagen gehen. Da ich den Weg nicht kenne, müssen sie ihn mir zeigen. Wir laufen durch den Matsch, und mir wird klar, dass meine weißen Sneaker nie wieder weiß sein werden. „Er hat gestern einem Gast sein Insta gegeben."

„Was glaubst du, wie er an tausend Follower gekommen ist?" Sie lachen über den Jungen, dessen Namen ich noch nicht einmal kenne.

„Weißt du," sagt Gabriel zu mir. „Nikita ist hier so ein Thema. Der macht, was er will, nur weil er mit Friedo befreundet ist."

Ich bin kurz davor zu fragen, wer Friedo ist. Dann fällt es mir ein: Friedo Hansen. Der Zirkusdirektor. Es überrascht mich nur, dass sie ihn einfach mit Vornamen ansprechen.

„Ich glaube, er ist mehr als nur befreundet mit ihm." Gabriel lacht. „Hier. Das ist dein Abteil." Der Pole wirft mir einen Schlüssel zu, den ich mit einem Adrenalinschub gerade noch fange. „Morgen um neun. Viel Spaß beim Einrichten."

„Und trink nicht das Wasser aus der Leitung," fügt Gabriel mit einem gespielten ernsten Blick hinzu.

„Die Rohre sind nicht gereinigt," lacht der andere und zwinkert. „Einfach nicht hinterfragen."

Ich nicke und beobachte, wie sie sich umdrehen und verschwinden. Mit einem tiefen Atemzug hebe ich den Koffer die winzige Stufe hinauf, öffne die Tür und sehe mich in meinem kleinen Reich um. Der Raum ist kaum größer als ein Abstellschrank, ein schmaler Schlafplatz, ein abgenutzter Holzboden und ein Fenster, das nur halb schließt und vom Regen beschlagen ist.

Natürlich sieht das alles anfangs wie ein Traum für mich aus. Wie cool, denke ich. Ein echtes Zirkusleben. Wie die Profis. Wie die Artisten.

Aus dem großen Zelt dringt dumpf die Melodie eines typischen Zirkusliedes. Die perfekte musikalische Untermalung, während ich den kleinen Raum mustere, in dem ich die nächsten sechs Monate leben soll.

Heute habe ich noch frei - Zeit, um anzukommen, in der neuen Umgebung und bei den Leuten, die mir alle noch fremd und aufregend erscheinen. Meine Idee für das Buch beginnt sich in meinem Kopf zu formen.

In meinem Zirkus gibt es keine einzelnen Show-Acts - es gibt nur eine große Show, in der die Nummern ineinander überfließen. Keine altmodischen Zirkuslieder, sondern moderne, mitreißende Tanz- und Akrobatiknummern, in denen alle Artisten involviert sind. So viele, dass man gar nicht weiß, wo man hinsehen soll. Eine Wunderwelt von Talenten und Ereignissen, ein wildes Durcheinander. Feuer muss involviert sein. Menschen, die schweben. Eine Traumwelt. Die Leute tauchen ein und wachen erst wieder auf, wenn die Show vorbei ist.

Ich klappe mein Laptop auf, das leere Dokument öffnet sich, und die ersten Sätze tanzen durch meinen Kopf.

NikitaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt