1.Teil - 01.Kapitel

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1.Teil - 01.Kapitel

"Evelyn komm augenblicklich nach unten!", hörte ich die wütende Stimme meiner Stiefmutter Megan von unten brüllen, doch ich beschloss sie wie so oft zu ignorieren und faltete stattdessen den auf hartem, weißen Papier geschriebenen Brief, bevor ich ihn in der Schublade meines Schreibtisches verstaute. Wenn es eine Sache gab, die ich wirklich nicht wollte, dann war es, dass irgendjemand mitbekam, dass ich begann insgeheim Briefe zu schreiben und sie am Ende wahrscheinlich noch durchlesen würde, weshalb ich auch darauf achtete, dass dieser versteckt blieb. Ich wusste auch gar nicht mehr wie ich überhaupt auf die Idee gekommen war mit dem Briefe schreiben anzufangen.      

Als ich dann die knarrenden Stufen der Treppe hörte, schlug ich schnell eins meiner herumliegenden Schulbücher auf und las mir irgendeine eine Aufgabenstellung durch, um es so aussehen zu lassen, als würde ich meine Hausaufgaben machen wollen.

„Sag mal hörst du nicht richtig?! Ich sagte du sollst nach unten kommen und wieder war ich es, die nach oben kommen musste. Warst du etwa wieder auf dem Dach? Was machst du da überhaupt?" Ihre schrille Stimme löste bei mir Kopfschmerzen aus und sie zu ignorieren fiel einem wirklich schwer.
„Hausaufgaben", antwortete ich so genervt wie möglich und hielt mir eine Hand an die Stirn. Nie konnte sie mich in ruhe lassen, immer gab es etwas über dass sie sich aufregen musste. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe mich zu ihr umzudrehen, weil ich genau wusste welche Art von Blick mich dort empfangen würde. Es würde der Warum-musst-ausgerechnet-du-Mitglied-dieser-Familie-sein Blick, mit dem sie mich meistens anstarrte, wenn sie es denn überhaupt tat.
Von hinten war ein Seuftzen zu hören.
„Ja aber natürlich." Wenn sie mir sowieso nicht glaubte, warum dann noch fragen? „ Und schau mich an wenn du mit mir redest."
Ich stöhnte genervt auf und drehte mich dann auf meinem Stuhl, so, dass ich diesem mir so gleichgültigen Menschen vor mir in die Augen sehen konnte. Zu meinem Erstaunen sah Megan heute etwas anders aus als sonst. Ihre feuerroten Haare fielen ihr gelockt über die Schultern, die grünen Augen waren stark geschminkt und sie trug ein grünes, eng anliegendes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte. Das ganze hatte etwas von einer Schlange. Denn Megan verkörperte nicht nur das Böse, sie versuchte es nicht einmal zu verbergen. Die giftigen, grünen Augen waren hasserfüllt auf mich gerichtet, während sie mit ihren langen, roten Fingernägeln abwartend auf ihrem Arm trommelte.
„Warum trägst du das?", wollte ich wissen und musterte sie mit einem abschätzenden Blick. Nicht, dass ich an ihr interessiert war, doch es überraschte mich jeden Tag auf's neue, dass mein Vater mit einer Frau zusammen sein konnte, die bereits über vierzig war und trotzdem an dem ein oder anderem Tag einern Prostituierten glich. Wenn das ihr Vorstellung von elegantem Aussehen war, sollte sie besser zuhause bleiben, aber sie würde natürlich nicht auf mich hören.

Megan und ich waren nie wirklich die besten Freundinnen gewesen, ganz im Gegenteil. Ich konnte mich noch genau an den Tag erinnern an dem mein Dad sie mir vorgestellt hatte. Sie und ihre zwei nervigen Kinder, die ich übrigens genau so wenig ausstehen konnte.
Ich war damals elf Jahre alt gewesen und das Letzte was ich zu der Zeit gebraucht hatte, war eine neue Familie. Ich hatte eine Familie...gehabt zumindest, doch das hieß nicht, dass ich eine neue brauchte, erst recht keine von sich selbst eingenommene, total zickige Stiefmutter, die sich mit ihren Zwillingen Tom und Jerry bei uns im Haus breit gemacht hatte und seit dem das ganze Königreich regierte. Die Jungs hießen übrigens tatsächlich Tom und Jerry, was ich bis heute für einen schlechten Scherz hielt. Na ja, eigentlich Tom und Gerald, aber so wollten sie nicht genannt werden.
Das Megan mich nicht liebte und es wahrscheinlich auch nie tun würde, wurde mir schon am Anfang relativ schnell bewusst. Sie interessierte sich nur für sich selber, liebte ihre zwei Schätzchen über alles und würde mich am liebsten komplett aus ‚ihrer' Familie streichen.
Da ich jedoch leider dazu gehörte, musste sie also lernen es mit mir auszuhalten, was nur hieß, dass wir uns nie beachteten und wenn es so war, dann stritten wir uns meistens, so wie jetzt ungefähr.

Doch der eigentliche Grund warum ich sie über alle Berge nicht ausstehen konnte war, dass sie meinen Vater damals dazu überredet hatte, mich zu einem Therapeuten zu schicken.
Als ich fragte was der ‚Therapeut' denn machen würde, meinten sie nur: „Dich wieder normal bekommen."
Und seit dem Tag wuchs der Hass den ich ursprünglich nur auf Megan hatte auf alle möglichen Menschen an. Auf die Zwillinge Tom und Jerry, alle meine Lehrer, alle Schüler in meiner Klasse, unsere Nachbarn, meinen Therapeuten Pitt, der mich behandelte als wäre ich unnormal und sogar auf unseren Postboten, der sich jedes mal beschwerte, wenn man nicht nach zwei Sekunden klingeln die Tür öffnete.
Nur mein Vater blieb von meinem Hass verschont, denn er war der Einzige der mich verstand.
Das versuchte ich mir jedenfalls damals einzureden. Insgeheim wusste ich, dass sie alle hinter meinem Rücken über mich redeten und dass ich selbst ihm gleichgültig war.

War ich normal? Diese Frage hatte ich mir damals oft selbst gestellt. Ich war mir aber auch sicher, dass es einen Unterschied zwischen einem normalen Menschen und dem normalen Verhalten eines Menschens gab. Letzteres traf bestimmt nicht auf mich zu. Aber was bedeutete überhaupt ‚normal?'
Rechtfertigt die Tatsache, dass meine Mutter als ich acht Jahre alt war Selbstmord beging und meine Schwester es ihr nach zwei Jahren gleich tat, weil sie sich die Schuld für den Tod ihrer Mutter gab und mit dieser Schuld nicht mehr leben konnte, mein vollkommen abwesendes Verhalten? Oder anders formuliert: Mein ‚unnormales' Verhalten? Wahrscheinlich. Und wahrscheinlich auch nicht. Für Megan war es jedenfalls das ‚wahrscheinlich nicht'.

„Dein Vater und ich werden in die Oper gehen, ich habe Rita angerufen, sie wird auf Tom und Jerry aufpassen, aber sie wird auch dafür sorgen, dass du nicht mehr rausgehst und  keine Dummheiten anstellst."
Weil ich das ja auch so oft tat. Dabei war meine ungewollte Anwesenheit in ihren Augen schon ein Verbrechen. Ich konnte mich nur noch zu gut an das eine Mal erinnern, als ich eines Abends, als ich wie immer nicht schlafen konnte, in die Küche gegangen war, um mir ein Glas Wasser zu holen. Dafür hatte ich jedoch durch das Wohnzimmer gemusst und hatte somit ihren Fernsehabend ruiniert, wofür ich drei lange Tage strafende Blicke ertragen musste, als wären die sich immer wiederholenden Kommentare über mein Verhalten nicht schon schlimm genug.

„War das Alles?", fragte ich unbeeindruckt.
Ich beobachtete wie Megan ihren Blick durch mein kleines Zimmer schweifen lies und die Nase rümpfte, bevor sie mich wieder ansah.
„Vergiss nicht deine Tabletten zu nehmen und räum zur Abwechslung mal dein Zimmer auf." Im nächsten Moment wurde die Zimmertür zu geschlagen und ich zuckte etwas zusammen. Dann stand ich auf und ließ mich auf mein Bett fallen.

In mir brodelte wieder die Wut auf. Am liebsten hätte ich ihr die oten Haare ausgerissen, ein Wunsch, den ich schon öfter verspürt hatte. Doch ich schlug nur mit der Faust fest gegen die Wand, was dazu führte, dass der schwarze Wochenplan, den mein Therapeut zusammen mit Megan und meinem Dad erstellt hatte, neben mir landete.
Ich griff danach und sah ihn mir ein letztes Mal an, bevor ich ihn ganz langsam  in zwei Teile riss und auf den Boden warf.
Dann stand ich auf, öffnete meine Zimmertür und polterte die Treppe nach unten.
„Evelyn, bist du das?", hörte ich Ritas Stimme aus dem Wohnzimmer, doch anstatt zu antworten lief ich in die Küche und füllte mir eine Schüssel so voll mit Cornflakes, dass kaum Milch mehr Platz darin hatte.
„Hey! Das sind unsere Cornflakes!"
Wie aus dem Nichts stand der gerade einmal sechs jährige Jerry auf einmal vor mir und sah mich so wütend an, dass sein Kopf fast so rot wurde wie seine Haare. Beide waren sie über die Jahre so verwöhnt worden, dass kein Platz mehr für ein wenig Anstand blieb. Sie teilten sich das Zimmer neben mir, welches einst Aurora gehört hatte. Und als Megan mit ihren zwei Söhnen eingezogen war, hatte ich meinen Dad angefleht das Zimmer nicht für die beiden herzugeben, doch da es kein anderes verfügbares Zimmer gab, wurde es kurz darauf in ein Kinderzimmer für Jungs mit Autotapete umgewandelt und die Sachen meiner Schwester landeten alle samt auf dem Dachboden, wo sie keiner mehr beachtete.

Als ich spürte wie mir auf einmal stark gegen das Bein getreten wurde, erschrak ich so sehr, dass ich die Schüssel fallen lies und sie mit einem lauten Knall auf dem Boden fiel.
„Du Idiot, schau was du angerichtet hast!", brüllte ich und schubste ihn etwas zurück, was dazu führte, dass er auf den Boden fiel und so laut zu kreischen begann, dass ich mir die Ohren zuhalten musste.
„Evelyn!"
Nun kam auch Rita aus dem Wohnzimmer, gefolgt von Tom, der seinen Bruder am Arm rüttelte und ihn dann hochzog.
„Sag mal hast du sie noch alle?!" Wütend sah sie mich an, doch ich verdrehte nur die Augen.
„Du weißt genau, dass er das alles nur vorspielt."
„Das sag ich meiner Mum!", brüllte Jerry, bevor er und Tom nach oben in ihre Zimmer rannten.
„Wenigstens kann ich jetzt ins Wohnzimmer", murmelte ich, doch Rita stellte sich mir in den Weg.
„Erst wenn du das hier aufgewischt hat", befahl sie und deutete auf den Boden.
Dann folgte sie den Zwillingen nach oben, allerdings nicht ohne mir vorher noch einen strengen Blick zu zuwerfen.
Ich seufzte und kniete mich hin, um die Schüssel aufzuheben, die zum Glück verschont blieb. Danach drehte ich mich um und wollte nach der Küchenrolle greifen, musste jedoch dabei feststellen, dass es keine mehr gab.
„Rita, ich muss zum Supermarkt!"
Kurz darauf ging eine Zimmertür auf und ich beobachtete wie sie die Treppe runter lief, einen Wäschekorb unter dem Arm geklemmt.
„Du gehst nirgendwo hin", sagte sie ruhig und stellte den Korb auf der Kücheninsel ab.
„Aber es gibt keine Küchenrolle mehr", versuchte ich zu erklären, doch sie schüttelte nur den Kopf.
„Auf dem Dachboden gibt es bestimmt noch welche."
Verwirrt sah ich sie an.
„Auf dem Dachboden?"

„Natürlich. Da liegt übrigens noch ne Menge anderes Zeug, dein Vater sollte da mal etwas aufräumen und erwartet ja nicht, dass ich das mache. Diese Räume und die Kinder sind mir schon chaotisch genug, außerdem werde ich für mehr auch nicht bezahlt"
Sie rümpfte die Nase, bevor sie wieder nach dem Wäschekorb griff und ins Wohnzimmer stolzierte. Das sie sich beschwerte, kam öfter einmal vor.
Trotzdem sah ich ihr fragend hinterher. So viel ich wusste war der Dachboden immer abgeschlossen. Wie sie nach dort oben gelangt war, war mir ebenfalls schleierhaft, doch eigentlich auch vollkommen egal.
Und was ich auch wusste war, dass Megan die Schlüssel in ihrem Schlafzimmer, das ich nicht betreten durfte, versteckte, damit ich bloß nicht auf die Idee kommen würde, mir einen eigenen Hausschlüssel zu besorgen.
Vielleicht war das auch der Grund warum ich keine Freunde hatte, weil ich mit Ausnahme von Schule und den Besuchen bei Pitt nie raus konnte. Doch selbst wenn ich es könnte, würde ich wohl kaum Freunde finden. Dabei konnte ich sogar sprechen wenn ich einigermaßen gut drauf war.
Heute war so ein Tag, auch wenn ich es sogar ohne Worte geschafft hatte mich mit den Zwillingen anzulegen. Doch wenn ich ehrlich war, war ich um so einiges froh, dass ich keine Freunde hatte. Wozu brauchte man die? Meine Familie, oder das was davon übrig blieb und die paar Ergänzungen an Menschen waren schon schlimm genug. Außerdem sah ich in Freundschaft keinen Sinn. Ich hatte genug Probleme, Probleme bei denen mir kein ‚Freund' helfen konnte.

Ohne groß darüber nachzudenken, lief ich nach oben und öffnete die Tür zum Schlafzimmer von Megan und meinem Dad.
Wie immer war es super ordentlich, was auch daran liegen könnte, dass sich kaum Möbel im Zimmer befanden und Rita es jedes Mal aufräumen durfte.

Rita Smith lebte nur drei Häuser weiter und wurde dieses Jahr 60 Jahre alt. Eigentlich hatte sie keine Arbeit, wurde jedoch irgendwann von Megan angesprochen und galt ab dem Tag als Kindermädchen und Putzfrau zu gleich. Wie auch alle anderen, mochte sie mich nicht wirklich und hatte kein Problem damit die Zwillinge ständig in Schutz zu nehmen, egal was los war.
Dies war auch ein Grund warum ich alle anderen versuchte zu vermeiden.
Sie verstanden mich einfach nicht.
Niemand tat das.

Ich öffnete die unterste Schublade der braunen Kommode und fand darin eine kleine Schatulle, die ich öffnete.
Kaum hatte ich den Deckel aufgeklappt, blitzten mich verschiedene Schlüssel in verschiedenen Farben an.
Ich schüttelte kurz den Kopf und griff dann nach einem kleinen Silbernen, an dessen Schild ‚Dachboden' stand.
Gerade wollte ich sie wieder schließen, als mir noch etwas anderes auffiel.
Es war der rote Samtboden der Schatulle, welcher jedoch schief zu sein schien.
Ich drückte mit meinem Daumen die höher stehende Seite herunter, wobei mir relativ schnell bewusst wurde, dass die Schatulle wohl einen zweiten Boden haben musste, weshalb ich mich hinkniete, den Inhalt auf den Boden schüttete und dann  versuchte den Boden anzuheben, was mir nach ein paar Versuchen auch gelang.

Was ich als nächstes sah, raubte mir den Atem. Einerseits, weil ich den dort als einziger liegenden Ring noch nie an Megan gesehen hatte, er mir aber andererseits trotzdem irgendwie bekannt vorkam.
Es war ein goldener Ring mit einem grünen Stein, bei dem ich mir nicht so sicher war, um was für einen es sich handelte. Mit zitternden Händen holte ich ihn raus und drehte ihn einmal zwischen meinen Fingern. Und dann fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen.

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Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen, die ein oder andere Rückmeldung wäre schön! :)

Nächstes Update: Voraussichtlich Sa, 22.08.

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