Kapitel 39

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In Wut und Angst versunken rase ich Straße um Straße entlang, bis ich in der Ferne den Parkplatz meines Wohnblocks sehen kann. Die Stärke meiner Gefühle erinnert mich an jenen Tag, an dem ich mich entschieden hatte, den Artikel über das Institut zu schreiben. All meine Gedanken waren in einem riesigen Kessel aus Entschlossenheit aufgebrodelt und drohten in großen Wellen über den Rand zu laufen. Heute ist genau das passiert. Die Wellen- in Form einer finalen, emotionalen Rechnung- sind über alle Limits hinweg gegangen. Die Limits, die sich Vernunft, Vorausdenken und Selbstbeherrschung nennen. 

Den Schlüssel aggressiv in das passende Schloss rammend, denke ich über das nach, was mich hinter der Tür erwarten könnte. Ich drehe den metallischen, kleinen Gegenstand um. Louis wird aus einem der Zimmer treten und sich in meine Arme werfen. Wieder drehe ich den Schlüssel. Ich freue mich auf seine strahlenden Augen, das breite Lächeln und die aufgeregt wackelnden Ohren, die jedes noch so leise Lachen in sich aufsaugen werden. Wir werden Pläne schmieden, die uns in Parks, Museen oder sogar nach Irland leiten werden. Als ich den Schlüssel das letzte Mal drehe, höre ich schon sein Kichern in den Ohren. Vielleicht werde ich ihm einen Klopf-Klopf-Witz erzählen. 

Die Tür springt auf. Ich stehe im Eingang und rühre mich nicht. Vielleicht sollte ich warten, damit er sich nicht in seiner eigenen Begrüßungs-Tradition hintergangen fühlt. Also bleibe ich noch weiter stehen. Was auch immer er sich hat einfallen lassen, er hat noch nicht mit mir gerechnet. 

Plötzlich höre ich eine gleichmäßige, röchelnde Atmung. 

"Jetzt steh hier nicht weiter rum!", denke ich und mache endlich einen ersten Schritt in meine Wohnung. Alles ist wie immer. 

"Hallo, Louis! Wann bist du denn aufgestanden heute Morgen? Oder schläfst du noch?" Meine Stimme trifft auf eine gähnende Leere, aber ich lasse mich nicht beirren. Meine Jacke hängt mittlerweile am Haken, nur meine Schuhe sind noch nicht wieder an ihrem Platz. "Ich hoffe, du hast dir schon ein Toast gemacht... es hat etwas länger gedauert, als ich dachte." In meinen Gedanken nickt er stolz, während er mit einer Bürste über einen eingeschäumten Teller fährt, er selbst sieht aus wie frisch aus der Badewanne. "Alles ist gut", sage ich zu mir selber, als ich die letzten Schnürsenkel löse und aus meiner gebeugten Position hochkomme. Meine Füße treten wie selbst den Weg ins Wohnzimmer an. Es sind nur zwei kleine Schritte bis dahin, aber heute lasse ich mir besonders viel Zeit. 

Dann stehe ich im Türrahmen und sehe das Bild an, das sich mir ergibt. In mir beginnt die Hälfte meiner Seele bitterlich an zu weinen, die andere bleibt stumm und überlegt sich, was es zum Mittagessen geben könnte. "Du hast dich also entschieden zu schlafen...? Dann nehme ich nicht an, dass du schon gegessen hast, oder?" Seine Hand umfasst die Fernbedienung, so als habe er sich gerade versucht beizubringen, welcher Knopf ihn zu welchem Programm führt. Der Bildschirm meines Röhrenfernsehers zeigt nur schwarze und weiße Flecken, die wie Schneeflocken umherirren. Wie in einem großen Chaos. Wie meine Gefühle. Sein linkes Bein liegt in einer angenehmen Position locker angewinkelt einfach da, das rechte, unechte, ist ausgestreckt. Ich gehe zum Fernseher und schalte ihn aus. "Seit wann schläfst du?", frage ich und kann es nicht verbergen, dass meiner Stimme ihre Kraft entgleitet. Auf Höhe seiner Schultern sinke ich langsam auf die Knie und schiebe den flachen Tisch direkt neben mir beiseite. Mein Blick gleitet zu seinem schönen Gesicht. Seine langen Wimpern, seine gerade Nase und die schmalen Lippen, die perfekt im Einklang zueinander geschaffen zu sein scheinen. "Seit wann schläfst du, Louis?" 

Meine Frage kommt nicht an. Ich hocke auf dem Boden neben meinem nicht ansprechbaren Freund und alles, was mir in den Kopf kommt, ist diese eine Frage. Er ist nicht tot, das kann ich spüren. Aber ich weiß auch, in was für eine Situation mich das bringt. Mein erster Instinkt ist schon auf dem Weg ins Krankenhaus, aber mein Verstand weiß es besser. Das Krankenhaus stellt keine Option dar. Es gibt nur eine einzige, und die hat mein Leben bis aufs negativste auf den Kopf gestellt. 

Hybrid InfectionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt