Kapitel 33 | Teil 1

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Harry

Die tiefgrünen Blätter der Bäume um uns herum zischen als verschwommene Farbflecken vorüber. Im Radio läuft Kiss Me von Ed Sheeran und die Sonne beweist uns endlich wieder ihre Kraft. 

"W-wohin fahren wir?", fragt der Hybrid auf dem Beifahrersitz neugierig. Seine Ohren wippen freudig hin und her, er vertraut mir zu einhundert Prozent, dass es ein toller Ort sein wird. 

"Auf's Land, wie gesagt", lächle ich vor mich hin und er greift nach meiner Hand, die ruhig auf dem Schaltknüppel liegt. 

"A-aber wohin g-genau? H-hazz, das ist s-so spannend für m-mich! B-bist du auch so g-glücklich?"

Langsam nickend sehe ich auf das Ortseingangsschild vor uns. Wusste ich doch, dass sich hier nicht verändert hat. "Lou, das wird ein wundervoller Tag. Ich kann's kaum erwarten, dir alles zu zeigen."

Louis lacht und lehnt seinen Kopf gegen die Lehne. "I-ich fühl mich so..."

Seine Stimme ist leise und brüchig, sein Kopf scheint achtmal so schwer für ihn zu sein wie gewöhnlich. "Alles in Ordnung? Louis?" 

Er nickt und schließt zögernd die Augen. Dann klappt sein Kopf zur Seite und er scheint vollkommen weg zu sein. 

"LOUIS!", rufe ich und lege beinahe einen Unfall hin. "Scheiße, Louis! Wach auf!" 

Innerhalb von Sekunden gebe ich Vollgas und trete dann auf die Bremse. Auf einer kleinen Einfahrt zu einem Haus kommt der Wagen zum Stehen. Ed Sheerans Stimme wird ganz leise in meinem Kopf. Meine Hände sind in derselben Sekunde vom Lenkrad gerissen und rüttelt wie verrückt an Louis, der dadurch auch nicht aufwacht. 

"Verdammt", flüstere ich panisch als er immer blasser wird, "Ich lass dich nicht gehen, Louis."

Als er nach wenigen Sekunden immer noch nicht wach ist, springe ich aus dem Wagen, renne vorne um ihn herum und öffne dann die Beifahrertür. In Windeseile löse ich seinen Gurt und ziehe ihn aus dem alten Mercedes. 

* * * * * * 

"H-hazz?" Eine verweinte Stimme zieht einen Faden der Klarheit in meine verschwommenen Wahrnehmungen. "H-hazz, du m-machst mir A-angst..."

Ich reiße die Augen auf. Verdammt, das war alles ein Traum...?!

Ein etwas verzerrtes Bild von einem zusammengerollten Louis, der unter der Kraft meiner Arme ins Kissen gepresst wird, prägt sich deutlich in meinem Gehirn ein. 

Das hier ist kein Traum mehr. Das ist echt. Ich hocke auf Louis und drücke ihn gewalttätig in die weißen Kissen, meine Hände an meinen Handgelenken und mit gefletschten Zähnen. Eine Sekunde lang kann ich mich vor Schock nicht rühren. 

"Runter von mir!", ruft der Hybrid mir zu. Ich lasse langsam seine Handgelenke los und er nutzt seine Chance und versucht mich vergebens hinunterzustoßen. Ich bin einfach zu schwer für seine schmächtigen Arme. 

"Louis, ich wollte das nicht... Bitte verzeih mir..." 

Wie in Trance vor die Polizei gestellt hebe ich meine Hände und steige von ihm hinunter. Er sieht mich geschockt an und öffnet den Mund. Er will etwas sagen und ich weiß, was es ist. Aber er kann es nicht aussprechen und ich mag es nicht denken. 

Mit dem Blick nach wie vor auf mir steht er auf und geht rückwärts aus dem Zimmer. Als er über die Schwelle getreten ist, dreht er sich um und rennt durch den Flur in ein anderes Zimmer. 

Ich stehe neben dem Bett und sehe fassungslos in meine Hände. Niemals in meinem Leben hätte ich gedacht, dass sie ihn derartig verletzen könnten. 

"Louis...", flüstere ich, obwohl er längst aus dem Raum ist und mich unmöglich hören kann. 

Ich bin aus einem Alptraum aufgewacht und direkt in den nächsten gestolpert. 

"Louis!", sage ich erneut, dieses Mal lauter. Als ich nichts höre, denke ich an die Zeiten im Institut, als ich ihn so des öfteren aus seinen Verstecken holen musste. Er hatte sich ab und zu in verschiedenen Räumen verkrochen, hatte gezittert und gehustet. Atemnot und Schüttelfrost können täuschende Anzeichen für eine starke Panik Attacke sein. 

Mit großen Schritten gehe ich durch meinen Flur und reiße jede Tür auf. 

Hinter der nächsten ist er nicht. Wieder nichts. Und auch danach kommt nur Leere. 

Schließlich bleibt ein letzter Raum übrig. 

Bevor ich die Tür öffne, höre ich von Innen Louis laut aufschreien. 

Ich reiße die Tür ruckartig auf und er schreit nur noch lauter. Seine Hände sind vor sein Gesicht gehalten, die Augen zu winzigen, tränenbenetzten Schlitzen verschlossen. 

"Louis, bitte...! Ich wollte dich nicht verletzen! Ich habe geschlafwandelt, das passiert einem Menschen manchmal! Ich wollte nicht..."

"NEIN!", schreit er und sieht mich aus tiefschwarzen Augen finster an.

"Du hast mir nicht weh getan, Harry." 

Langsam spüre ich, wie in mir Tränen aufsteigen. 

"Nicht körperlich."

"Louis... ich liebe dich..."

Er sieht auf und bleibt stumm. Sehr lange. 

"Ich liebe dich auch."




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