Kapitel 6

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Louis

Etwas hektisch mache ich einen Satz zurück und gehe rückwärts zur Tür. Meine Beine schmerzen allein vom schnellen Hochkommen schon sehr, aber das muss ich jetzt einfach ignorieren. "L-louis?", raunt Harry verschlafen, als er mich erblickt. "Ist alles in Ordnung?", fragt er und schiebt seine Decke etwas weg, sodass ich jetzt freien Blick auf seinen nackten Oberkörper habe, denn er schläft nur in Boxershorts.  Ein warmes Schaudern fährt meinen Rücken hinunter, als ich daran denke, dass ich genau diesen Anblick schon einige wenige Male in meinen Träumen hatte. Nein, wir haben nicht wild rumgemacht, es war einfach... so. Es war so. Er hatte kein Oberteil an, mehr nicht.

"Ha-hattest du einen A-alptraum?", bringe ich heraus und sehe ihn nervös und abwartend zugleich an. Dass ich stottere liegt nebenbei betrachtet nicht nur daran, dass ich nervös bin. Es ist ein Sprachfehler, der sich bei mir eingeschlichen hat, als die Ärzte mich so bearbeitet haben, dass ich richtig miaue, schnurre und fauche. Harry fährt sich nachdenklich durch die Haare und sieht mich dann erstaunt an. "Ja, hatte ich. Woher weißt du das?"

Nun stehe ich völlig ratlos da und überlege. Soll ich ihm jetzt ernsthaft erklären, dass mir das im Traum gezeigt wurde? Dass ich nur deswegen hier bin und dann bemerkt habe, dass er tatsächlich einen Alptraum hat? "D-du hast gegen die Wand geschlagen", sage ich und bin stolz, dass ich so schnell eine gute Ausrede gefunden habe. Er blickt zu seinen Händen und dann wieder zu mir. "Oh, sorry, dass ich dich geweckt hab...", murmelt er und guckt mich aus diesen funkelnden, grünen Augen an. Er sieht mir solange ins Gesicht, bis ich etwas nervös werde und die Hand an die Klinke hinter mir lege. "Ich... g-gehe vielleicht besser wieder in mein Bett", sage ich, doch in genau diesem Moment ertönt ein schriller Ton und das Schloss der Tür rastet ein. Harry sieht auf die Uhr. "Es ist bereits Mitternacht, da werden die Türen abgeschlossen. Sieht so aus, als müsstest du hier schlafen... ich hoffe, dass das kein Problem für dich ist?", sagt er etwas gedankenverloren, sieht mir dabei immer noch ins Gesicht. Ich soll hier schlafen...? Und er lässt das zu? Jemanden wie mich bei sich zu haben? Ich nicke langsam. "Ich d-danke dir, das ist n-nett, dass ich hier schlafen d-darf"

Er schlägt die Decke nun ganz weg und robbt ein wenig zur Wand, sodass ich neben ihn passe. Denn das Bett ist nicht das breiteste. Er sieht, wie sehr ich noch immer humple und setzt sich ruckartig auf. "Louis... es tut mir so Leid.", sagt er und beobachtet mein Bein kritisch. Oh, Nein. Jetzt will er mich doch nicht mehr bei sich haben. Er steht auf und kommt schnellen Schrittes auf mich zu. Ich bekomme ein klein wenig Angst, was will er machen? Doch kurz bevor ich schon mein Gesicht schützen will, kniet er sich vor mich und legt seine Hand an mein Bein, welches krampfhaft von meinem Katzenschwanz umschlungen ist. Er blickt traurig zu mir auf und ich sehe zu ihm herab. "H-hab ich was falsch gemacht?", frage ich vorsichtshalber und er begibt sich wieder auf meine Höhe. "Wie konnte ich nur so dumm sein und dich nicht verarzten... deine Schmerzen stillen?", fragt er überraschenderweise und ich versuche nicht aufzuatmen. Ja, vielleicht hatte ich Schmerzen, aber die waren deutlich besser aushaltbar, als in der Zeit ohne ihn...

"D-die kann man nicht m-m-mehr stillen", sage ich und blicke zu ihm auf, denn er ist einen halben Kopf größer als ich.  "Ich denke, dass ich es trotzdem versuchen werde." Er durchleuchtet, Nein erleuchtet mich und meine mit dem darauf folgendem Lächeln und meine Mundwinkel wandern nach oben. So, wie sie es schon lange nicht mehr getan haben. Aus dem Herzen und ohne dazu gezwungen worden zu sein.

Doch die Weise, in der mein Gegenüber mich nun ansieht, lässt mein Herz erbarmungslos schmelzen und meine Adern pumpen. Mein Herz klopft ganz schnell und meine Knie werden wacklig... Moment mal. Das mit den Knien ist etwas heftig gerade... Mir ist mit einem Mal ganz schummerig und meine Beine drohen nachzugeben. "H-harry, ich fühle mich n-nicht so gut...", murmle ich und fühle, wie mein linkes Bein endgültig den Geist aufgibt. Ich knicke in mich zusammen und liege nun halbwegs auf dem Boden. "Louis!", ruft Harry erschrocken und beugt sie zu mir. "Harry, i-ich kann mein B-b-bein nicht mehr spüren", sage ich und seine Augen weiten sich. "Oh, verdammt, das ist nicht gut... Ich muss einen Arzt oder sowas suchen!" "N-nein! D-dann musst du denen doch auch s-sagen was ich b-bin und so!" Er legt die Hand an mein Bein. "Tut es dir irgendwie weh? Spürst du meine Hand?" Ich schüttle mit gesenktem Blick meinen Kopf. "Shit", flucht er und streicht mit der Hand von meinem Oberschenkel bis zu meinem Fuß. "Jetzt irgendwas? Irgendwo?" Wieder ein Kopfschüttlen meinerseits. Ich muss mich zurückhalten um nicht einfach zu heulen, denn ich weiß, worauf das hinauslaufen könnte. Ich will mein Bein aber behalten...

"Wir können nichts machen. Wir sind hier eingeschlossen und können nichts machen!" Verzweifelt läuft er im Zimmer hin und her, mich hat er aufs Bett verfrachtet. Ich weiß, dass ich mein linkes Bein so gut wie aufgeben kann. Da ist nichts zu retten, das spüre ich. Ich habe Angst, dass ich mein rechtes auch bald vergessen muss. Ängstlich spanne ich es immer wieder an oder fahre mit der Hand über die zerkratzte Haut, nur um zu wissen, dass es noch "lebt".

Nach einer ganzen Zeit wird Harry langsamer, verlässt den Streifen, auf dem er schon eine Weile seine Bahnen zieht und kommt zu mir ins Bett. Ich robbe weiter an die Wand und bleibe stocksteif und an die kalte Steinmauer gepresst liegen. Harry dreht sich mit dem Körper zu mir, sodass er mir ins Gesicht blicken kann. "Sobald die Türen in fünf Stunden aufgeschlossen werden, werde ich dir ärztliche Hilfe besorgen, klar?" Ich nicke und starre an die Decke. Irgendwann kann ich mich nicht mehr beherrschen und schaue auch zu meinem Bettnachbarn. "Ich will m-mein Bein nicht verlieren. D-dann bin ich doch komplett l-lahmgelegt.", sage ich nach einer Weile des Schweigens und Harry streicht mir sanft mit dem Handrücken über die Wange, als sich doch eine einzelne Träne ihren Weg in die Freiheit gebahnt hat. Doch selbst als die Träne weggewischt ist, lässt er seine Hand, wo sie ist. Wie erstarrt. Doch sein Blick ist ruhig und besonnen. Er scheint neuen Mut gefasst zu haben- und wenn er ruhig ist, wie jetzt, dann werde ich doch tatsächlich auch ein wenig ruhiger. Fast lege ich schon meine Hand auf seine, doch dann halte ich mich zurück. 'Nur, weil du so lange niemanden mehr berühren durftest, heißt das noch lange nicht, dass er das akzeptieren will!', schreie ich mich im Geiste selber an. So hätte es Mister Hyde sicher auch gemacht. Anschreien. Das war sein zweitliebstes Hobby. Was an erster Stelle stand, muss ich wohl niemandem erklären.

Ich schließe die Augen und beschließe ganz einfach zu schlafen. Doch eine Berührung an meiner Hand hält mich zurück- Harry? Klar, wer sonst... Erschrocken öffne ich die Augen wieder und fühle mich ihm plötzlich ganz nah. Die Stimme von Mister Hyde wird leiser, bis ich sie kaum noch hören kann. Dann verstummt sie und ich fühle mich wie in einem dieser Träume, in denen er auftaucht. Nur, dass er dieses Mal real ist. Hier, direkt vor mir und ohne das Aufwachen.

Für einen Moment verschwinden die Schmerzen und alles um uns herum.

Er ergreift meine Hand nun ganz und eine Gänsehaut verbreitet sich über meinen gesamten Körper. Er nimmt die Decke und deckt uns wärmer zu. Ich könnte jetzt Angst bekommen, dass er mich fallen lässt, mich plattmacht und mich endgültig zerstört. Aber das macht er nicht. Das weiß und spüre ich plötzlich.

Wie hat er es nur geschafft, dass er in mir mit einem Mal so eine tiefgreifende Sicherheit auslöst?

Wie kann er das bloß einfach so machen? Gibt's dafür einen Knopf oder etwas in der Art?

Warum ist er plötzlich in meiner Welt aufgetaucht? Womit habe ich das verdient?

Wie stoppe ich die Zeit und lasse das hier die Ewigkeit sein?

Hybrid InfectionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt