Kapitel 10

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Der Anblick verschlug mir regelrecht die Sprache. Es war der absolute Wahnsinn.

Alt traf auf Neu. Rustikal auf modern. Ein traumhaftes Anwesen, verschlungen durch die ungezähmte, wilde Natur. Massen an Efeu Ranken zierten die Fassaden des großen Hauses in der Mitte. Damals hatte es sicherlich mal strahlend weiß geleuchtet. Jetzt leckten die kleinen Zweige bereits an dem moosbedecktem Dach über dem zweiten Stock. Zwei Gauben starrten mich wie riesige Augen eines Waldungeheuers an und die frischgestrichene weiße Eingangstür wirkte beinahe unpassend neumodisch. Besonders da die graue Steintreppe mit Rissen durchzogen war und sich das rostige Geländer traurig zur Seite neigte. Nur verschiedene Kübel mit bunten Stiefmütterchen ließen den Eingang einladend aussehen.

Die alten Steinplatten, die sicherlich mal als Weg dienten, wurden von Unkraut verschlungen und dutzende von Bäumen versteckten die Anbauten rechts und links vom Haus. Sie waren etwas nach hinten gerückt und wohl erst vor kurzem errichtet worden denn das Efeu hatte sie noch nicht für sich beansprucht.

Knirschend fuhren wir auf die Schottereinfahrt. Tommy manövrierte den Wagen gekonnt zwischen einem weiteren kleineren Auto und einer großen Birke hindurch.

An dem Anbau vorbei konnte ich den See zwischen den bunten Herbstblättern glitzern sehen.

Es war besser als in meinen Träumen. Nicht zu vergleichen mit dem Grundstück meines Onkels. Dort musste alles ordentlich und akkurat sein. Kein Grashalm durfte länger oder kürzer als die anderen sein und die Büsche waren zu millimeter genauen Figuren getrimmt worden. Aber hier war alles anders hier war alles – frei.

Doch so schön es aussah, ich hatte trotzdem höllische Angst. Denn in diesem großen Haus wohnten sicherlich noch mehr Dämonen und ich hatte keine Ahnung wie sie auf mich reagieren würden. Die Männer hatten mittlerweile erleichtert das Auto verlassen und neben mir schob Alex den Sitz nach vorne und hievte sich ebenfalls ächzend raus. Selbst Blacky sprang freudestrahlend auf den Schotter und flitzte, wie von einer Tarantel gestochen, durch den nächsten Laubhaufen.

Hinter mir wurde der Kofferraum geöffnet und ich saß noch immer wie festgefroren auf meinem Platz und starrte aus der offenen Autotür. Nervös knetete ich meine schweißnassen Hände. Nicht zu wissen was als nächstes passiert war für mich mehr als beängstigend. Ich wurde aus meinen vertrauten vier Wänden und dem gewohnten Tagesablauf herausgerissen und saß nun hier vor einem wunderschönen Haus, in dem ein großes schwarzes Fragezeichen hockte. Was ist wenn die anderen mich nicht mochten, mich nicht akzeptierten und Alex doch überzeugten mich auszuliefern. Ich konnte nicht aussteigen aber das Warten war ebenso unerträglich. Die Sehnsucht nach meinem kleinen, grauen Zimmer wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Elise bestärkte das Gefühl in mir noch zusätzlich und ich überlegte bereits den Wagen kurzzuschließen und einfach weg zufahren. Nur doof, das ich weder solche kriminellen Fertigkeiten, noch einen Führerschein besaß. Doch im nächsten Moment erschien das widerliche Gesicht meines Onkels vor meinem Inneren Auge und ich war froh nicht mehr bei ihm zu sein. Mir wurde schon schwindelig von dem ganzen hin und her der Gefühle. Wütend verbannte ich Elises Gefühle aus meinem Kopf damit sie mich nicht noch mehr verwirrten. Der Kofferraum wurde mit einem Knall zugemacht und Alex Kopf erschien in der offenen Tür. Er hielt mir die Hand entgegen. Die Erschöpfung der letzten Stunden war ihm anzusehen, ließ ihn aber gleichzeitig durch die leicht gesenkten Augenlieder und dem schiefen Lächeln unglaublich sinnlich aussehen. Unwillkürlich blieb mein Blick an seinen vollen Lippen hängen und ich erinnerte mich wieder an den seltsamen Traum auf dem Segelboot. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

„Na komm oder bist du festgewachsen?"

Ich zuckte zusammen und spürte wie meine Wangen heißt wurden. Er bemerkte es zum Glück nicht. Unsicher nahm ich seine Hand und die Angst vor dem großen Unbekannten schlich sich zurück in meinen Kopf.

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