Eins

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Mit gerunzelter Stirne schritt er um mich herum und betrachtet eindringlich das Gemälde vor mir. Schliesslich bleibt er stehen und reibt mit seinem Daumen und Zeigefinger sein stoppeliges Kinn. Seinen intensiven Blick hat er immer noch nicht vom Bild abgewendet.

„Sehr ausdrucksstark", kommt aus seinem Mund und ich bin mir nicht sicher, ob er zu mir oder zu sich selbst spricht. So nicke ich stumm.

Herr Callidus dreht sich zu mir um und schaut mich mit seinen dunklen Augen an. Aus seinem Gesicht kann ich keine Mimik ablesen und weiss daher nicht, wie er mein Gemälde findet. Ein mulmiges Gefühl braut sich in mich zusammen, als Herr Callidus immer noch keinen Wank macht und mich eindringlich anblickt, so dass ich das Gefühl habe, als würde er meine Gedanken lesen.

Nach einer gefühlte Ewigkeit scheint er aus seinen Gedanken zu erwachen und schaut mich zufrieden an.

„Mir gefällt besonders die Farbkontraste. Das Weiss mit dem Schwarz und das Grün mit dem Rot." Er wendet sich wieder zum Gemälde. „Eins ist mir klar, die tote Frau auf der Leinwand ist deine Mutter. Aber willst du mir erklären, warum bei ihr Blut aus dem Herz quillt? Vitalia starb auf einer andere Weise, nicht?"

Herr Callidus schaut mich fragend an und mein Herz zieht sich zusammen, als er meine Mam erwähnt hat. Ich spüre, dass ich sie immer noch vermisse. Sie wurde wegen einem Verrat gegen das System auf die Oberfläche verbannt. Dort starb sie qualvoll, da das ganze Land von den radioaktiven Strahlen verseucht ist. Erwachsene, die eine Straftat begehen, werden mit dem Tod bestraft.

„Lucia?", reisst Callidus Stimme aus meinen Gedanken und ich blicke zu ihm hoch.

Schnell schüttle ich meinen Kopf, um die Erinnerungen von meiner Mutter zu verdrängen und rufe die Frage von Callidus in meinem Kopf auf.

Bevor ich ihm antworten kann, stellt er mir lächelnd eine andere Frage. „Erklär mir einfach, wie du ausgerechnet das Bild maltest und warum in dieser Stil und Form?"

Ich wende mich zu meinem Gemälde und betrachte dies kurz. Eine düstere schwarzgraue Fläche mit groben Pinselstrichen bedeckt die Leinwand. In der Mitte ist eine liegende Frau mit hängenden Armen nach unten in Weiss abgebildet. Es sieht aus, als würde sie schweben. Ihre Augen sind zu und ihr langes rotes Haar fällt nach unten. Ein grünes Tuch bedeckt ihr Becken. Aus der linken Seite ihres Brusts quillt das rote Blut heraus und scheint in die Tiefe zu tropfen. In das schwarze Nichts.

„Ich vermisse meine Mam so sehr", beginne ich. „Das Gefühl, der Schmerz, geht einfach nicht weg. Er sitzt tief in mir, als wäre er in mir verankert. Ich konnte die Last nicht für immer in mir herumtragen, weil es einfach verdammt schmerzt. Mit jemanden darüber zu sprechen hilft mir nichts. Glaub mir, ich habe das schon getan, aber dadurch übertrage ich nur meinen elenden Kummer zur anderen Person." Ich atme kurz durch. „Heute, als ich vor der Leinwand stand, zeichnete ich einfach alle meinen Schmerz und Trauer auf. Ich habe gar nicht wirklich überlegt, was ich da malte. Es kam einfach aus mir heraus."

Ich blicke zu meinem Lehrer und merke, dass Tränen über meine Wange rinnen. Schnell wische ich sie ab und fahre fort: „Es ist so unfair. Meine Mam wurde einfach grundlos hingerichtet. Sie war unschuldig! Die Behörden gaben mir nicht einmal einen richtigen Grund, warum sie sterben musste. Ihr wurde einfach ohne einen Wimper zu zucken das Herz herausgerissen. Einfach so! Das ist der Grund, warum das Blut aus ihrer Brust kommt und in die schwarze Tiefe fällt, weil sie unschuldig starb. Ihr Blut tropft endlos weiter und wird niemals auf einen Grund prallen. Es gibt keinen Grund, dass das Fallen aufhören soll, genau wie meine Mutter keinen Grund hatte zu sterben." -Ich blicke wieder zum Bild.- „Die Schwärze um ihr herum bedeutet Wut, Trauer, Tod, Einsamkeit, Dunkelheit, Macht, und Leere. Meine Mutter ist weiss, weil sie unschuldig und rein war. Das knappe Tuch bedeutet, dass sie von ihren Freunde, ich weiss nicht ob ich sie noch Freunde bezeichnen kann. Jedenfalls bekam sie zu wenig Schutz von den anderen. Niemand half ihr, alle wendeten sich ab oder die meisten jedenfalls. Die Farbe Grün beim Tuch symbolisiert Frieden und Hoffnung, für die neue Welt, wo sie sich jetzt befindet."

REVELATION | Wenn die Wahrheit ans Licht kommt...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt