III | Wie sie lebte als ich sie kannte.

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Sie lebte in einer kleinen Wohnung mit nicht mehr als zwei Zimmern. Es war dunkel, doch  sie erhellte den Raum mit ihrer Präsenz wie mit einem Heiligenschein - und verdunkelte ihn wie einen riesigen Schatten.

In ihrem Kühlschrank gab es kaum mehr als abgelaufene, saure saure Milchpackungen, weiche Äpfel und einige Becher Joghurt, die mehrere Monate über dem Mindesthaltbarkeitsdatum lagen, und es war vielleicht besser so, denn so oft beugte sie sich über die Toilette und ihre Fingernägel kratzten ihren Hals wund.

Sie verbrachte ihre meiste Zeit an einem Schreibtisch der einige Schrammen hatte, und schrieb dort Zeilen über Leben. Doch sie schrieb nie über ihr eigenes Leben, und auch nie über das der anderen, sondern nur über die Existenz.
Auf der schneeweißen Raufasertapete hatte sie mit Edding Worte geschrieben, Dinge, die sie nicht vergessen wollte, und am Ende vergaß sie sie trotzdem.
Sie hatte eine Schachtel voller Briefe die sie an Menschen schrieb, die sie jedoch nie abschickte, oder deren Empfänger bereits nicht mehr lebten. Sie schrieb auch an den Regen, der nachts an ihre Fenster klopfte, oder an Spinnen, die im Winter um Eintritt baten. Sie hatte Bücher, so viele Bücher. Ihr Regal war voller gelesener, ungelesener, ausgepackter, verschweißter, verschlungener, verdauter, verhasster oder geliebter Bücher, und selbst auf dem Boden stapelten sich die toten Bäume mit den bunten Worten.

Im Flur hingen in Wechselbilderrahmen Bilder – von Landschaften zu entblößten Körpern und Gesichtern, die sie versuchte in ihr Gedächtnis zu rufen. Doch sonst gab es nur diese verrückt machende Stille.

Und sie.

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