Kapitel 6

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Doch kaum war ich dort angekommen, wurde meiner Begeisterung ein jäher Dämpfer verpasst, als ich das durchgeschnittene Kabel sah. Wütend biss ich die Zähne zusammen und schubste den abgetrennten Teil des Kabels zu Boden. Am liebsten hätte ich den Tisch zu Kleinholz verarbeitet. Mist. Naja, wäre ja auch zu einfach gewesen ...

Ein Geräusch ließ mich zusammenfahren. Stimmengemurmel drang aus dem Verkaufsraum unmittelbar vor mir. Vorsichtig schob ich meinen Kopf um die Ecke.

Erst verschlug es mir förmlich den Atem.

Die Vitrinen waren allesamt leergeräumt, das ach so saubere Glas eingeschlagen. Überall lagen Splitter auf dem Boden, die unter den Schuhsohlen der umhergehenden Männer, die offenbar gerade zur Tür hereingekommen waren, knirschten. Die Mantelfrau lehnte mit dem Rücken zu mir am Thresen, rauchte gemächlich eine Zigarette und schaute hin und wieder auf die Uhr. „Schon halb sieben. Wie viel haben wir noch?".

„Die Kartons mit dem Zeug aus dem Laden sind alle verstaut", berichtete einer der Männer atemlos. „Stan ist noch im Keller".

„Was machen wir eigentlich mit den Leuten?", fragte der andere, der einen ziemlich nervösen Eindruck machte, als ob er sich fast vor der Antwort fürchtete.

Die Frau nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, bevor sie sie ohne hinzusehen auf dem Thresen ausdrückte, um sie dann achtlos hinter sich zu werfen; das noch qualmende Teil rollte genau vor meine Zehenspitzen. „Es war blödsinnig, so viele Gefangene in Kauf zu nehmen. Wir hätten warten sollen, sie wären gewiss bald gegangen. Aber wir waren ohnehin schon spät dran. Ihr seht ja, wie lange es dauert". Ganz offensichtlich war sie der Boss. „Und dann auch noch dieser bekloppte Zufall". Sie riss eine Zeitung hoch; es war eine Ausgabe von der, wie sie auch der Riese, mit Namen anscheinend Stan, bei sich gehabt hatte. „Die ganze Welt sucht nach ihnen. Zum Glück werden sie nicht mit den beiden Mädchen in Verbindung gebracht, sonst stünde die Polizei schon längst hier".

Das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Wie wohl Nicis Gesicht aussähe, wenn sie als Unwissende im Internet lesen würde, dass zwei Mitglieder von One Direction verschwunden waren? Sicherlich würde sie an jede Wand, an jeden Pfosten, an jede Kuh einen Vermisst-Zettel hängen, vor Sorge stundenlang im Bett liegen und die Polizei mit hysterischen Anrufen attackieren.

Ich fragte mich, ob mich schon jemand vermisste. Meine Mutter kam sowieso erst spät nachts nach Hause, wenn ich schon schlief und mein Vater ... naja der, der war vor ein paar Jahren abgehauen und hatte sich seitdem nie wieder blicken lassen. Folglich könnte ich glatt eine Woche wegbleiben, ohne dass es jemandem auffiel. Bei Nici war es allerdings das genaue Gegenteil. War sie auch nur eine halbe Stunde zu spät dran, rief schon ihre besorgte große Schwester an und erkundigte sich aufgebracht nach ihrem Verbleib. Ich weiß, das klingt komisch, aber Nici hat einfach eine Schwester, die sich rührend um sie kümmert. Es kann manchmal echt nervig sein, wenn sie bei jeder Kleinigkeit nachhakt und sich überall einmischt, aber im Großen und Ganzen ist sie echt cool. Würde mich nicht wundern, wenn sie schon bei der Polizei stünde. Nun, die zuständigen Beamter konnten einem richtig leid tun, denn ihre Schwester war nicht nur überfürsorglich, sondern auch sehr, SEHR hartnäckig. Wenn sie sich etwas in den Dickkopf gesetzt hatte, passierte das auch, egal wie.

Bevor ich über unseren nächsten Schritt nachdenken konnte, dröhnte ein weltrekordreif lautes Brüllen durch das Gebäude, das buchstäblich die Wände erzittern ließ und mich vor Schreck fast an die Decke beförderte. Verdammt! Wir hatten total vergessen, den Riesen zu knebeln!

Die drei im Verkaufsraum stockten und drehten sich allesamt zur Hintertür um, sodass ich schnell meinen Kopf zurückziehen musste.

„Hört sich so an, als könnte Stan Hilfe brauchen". Einer der Männer polterte auf die Tür zu.

Night Of Captivity (1D-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt