Kapitel 9

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Stan erreichte den Rand als Erster. In der ungünstigen Position, in der er sich befand, hatte er nicht die geringste Chance, sich am Schneegitter oder an der Regenrinne festzuhalten. Er purzelte förmlich über das Gitter, ich glaubte, deutlich zu sehen, wie er ein allerletztes mal nach Luft schnappte - dann war er verschwunden. Und dieses entsetzliche, ekelerregende Geräusch, mit dem er unten aufschlug, werde ich wohl nie vergessen. Eine Welle von Übelkeit überkam mich. Schluchzend streckte ich ein letztes mal die Arme nach Niall aus, als ob ich noch etwas ausrichten konnte. Ich konnte nicht anders. Ich kniff die Augen zusammen, schrie innerlich aus Leibeskräften, wollte alles übertönen, um nichts mehr von dem Horror mitkriegen zu müssen. Sekundenlang saß ich so da. Hände auf den Ohren, Augen zugedrückt, den salzigen Geschmack der Tränen im Mund.

Bis sich eine Stimme in mein Bewusstsein schlich.

„Allie?".

Zitternd wiegte ich mich wie ein verstörtes kleines Kind vor und zurück. Sollte ich hinterherspringen? Damit könnte ich dem Ganzen ein Ende setzen. Ich müsste mir um nichts mehr Sorgen machen. Endstation.

„Allie!".

„Lasst mich in Ruhe!", hätte ich am liebsten gebrüllt und wollte schon aufspringen, um meine Gedanken zu verwirklichen, da ging mir auf, zu wem diese Stimme gehörte. Meine schmerzenden Augen öffneten sich einen Spalt breit. Das konnte nicht sein. Er war vom Dach gefallen. Er war ... tot!

„N-Niall?".

Ein Ächzen ertönte als Antwort.

Mit einem Schlag riss ich die Augen weit auf und sprang endlich auf die Beine, auch wenn ich das Gefühl hatte, jeden Moment zusammenbrechen zu müssen. „Oh mein Gott!".

Niall hing da unten; mit beiden Händern klammerte er sich mühevoll an den Eisenstäben des massiven Schneegitters fest, an dem er seinen Fall im Gegensatz zu Stan in letzter Minute hatte stoppen können. Eine weitere Schramme im Gesicht leistete den Vorherigen nun Gesellschaft und an einem Knie war die Hose zerrissen, doch ansonsten schien er unverletzt zu sein.

„Kannst du dich da unten halten?". Meine Stimme war so dünn und kraftlos, dass ich selbst zusammenzuckte.

Er schaffte es, sich hinter dem Gitter in eine einigermaßen sichere sitzende Position zu bringen, so weit die Umstände es zuließen. Zu seinen Füßen lag die Pistole, die er mit einem angewiderten Tritt von sich wegbeförderte, bevor er mir zunickte und rief: „Da hinten kommen Streifenwagen!".

Vielleicht waren es die Erleichterung oder der Schock, vielleicht aber auch das stetige Nachhallen des tödlichen Aufprallgeräuschs in meinem Kopf, das mich dazu brachte, mich zur Seite zu drehen und mich zu übergeben, bis sich mein ganzer Magen entleert hatte und ich nur noch bittere Galle schmecken konnte. „Shit". Schwer atmend ließ ich mich erschöpft auf den Hosenboden fallen und wischte mir einige Haarsträhnen aus dem schweißnassen Gesicht.

„Geht es?", kam es gedämpft von Niall, der sich so fest am Rand des Gitters festkrallte, dass seine Knöchel weiß wurden.

Ich holte tief Luft und nickte.

„Hallo?", ertönte in diesem Moment eine barsche Stimme von unten.

Wir reckten beide den Hals und sahen, dass am Rande des Bürgersteigs ein paar Polizisten standen, die zu uns heraufschauten. „Hier sind wir!", schrie ich hinunter und winkte wie wild. Als ob sie uns nicht schon längst gesehen hätten

Irgendwo unter uns, im Inneren des Gebäudes, polterte es und verschiedene Leute brüllten etwas, bis einige Sekunden später jemand in leuchtend orange-gelber Jacke aus dem Fenster kletterte, geschickt auf mich zubalancierte und neben mir in die Hocke ging. „Irgendwelche Verletzungen?".

Night Of Captivity (1D-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt