Sie nach so vielen Jahren wiederzusehen, lebendig, zum Greifen nah, attraktiv wie immer, mit denselben Lippen, die ich einst mehr als alles andere liebte, ist unbeschreiblich.
Der neue, ganz besondere Sex-Appeal einer Powerfrau steht Jillian gut und lässt mich schwer schlucken. Sie sagt nichts, doch die Kälte in ihrem Blick sorgt auch ohne für die nötige Distanz. Die grünen Augen einer Wildkatze funkeln mich an, als wollten sie sagen: »Vorsicht!!! Bissig, nachtragend, seit Jahren männerfeindlich und arbeitsexzessiv!« Dass sie sich allerdings in zeitlicher Übereinstimmung nervös auf die Lippe beißt und mit den Fingernägeln ein taktloses Lied auf der Tischplatte wiedergibt, verleiht dem gelassenen Gesamtbild einen leicht grellen, unglaubwürdigen Glanz.
Diese Nervosität straft ihre aufgesetzte Fassade Lügen.
Ja, ich kenne sie.
Gut!
Sehr gut sogar. Und es wundert mich kein bisschen, dass die sieben vergangenen Jahre überhaupt nichts daran ändern konnten.
Damals wie heute war sie frech, aber dennoch schüchtern. Sie war humorvoll und gleichermaßen bissig, intelligent und trotzdem naiv. Nur ihr Aussehen kannte keinen Widerspruch. Jillian war immer bedingungslos schön.
Nun ... Tja, wie beschreiben, ohne kitschig zu klingen? Es geht nicht ohne ... Ihre einstmals mädchenhaften Formen sind nun weiblich und einladend. Die Lippen unverändert schwungvoll, allerdings in »Pose« gestellt. Die gesamte Mimik ist reifer und reizvoller. Andere würden es sicherlich auch ausgearbeitet nennen.
Doch eines versetzt mir einen heißen, verdammt schmerzhaften Stich: ihre Augen. Deren Glanz ist irgendwann zwischen dem 15. August 2005 – dem letzten Tag, an dem ich sie sah – und heute verloren gegangen.
Wenn man sich jetzt fragt, wieso ich dieses Datum mit derartiger Gewissheit nennen kann, ist das leicht erklärt: Es brannte sich ein für alle Mal in meine Erinnerung, wurde zum Hauptkriterium für mein Gewissen und ...
Okay, ich gebe es zu, es war der Tag, an dem mich meine erste, große Liebe ohne ein Wort verließ.
Ebenfalls sehe ich ein, dass diese Wendung nicht gerade unverdient kam. Und ja, ich habe meine Fehler längst eingesehen, unglaublich oft durchgekaut und aus ihnen eine Lektion fürs Leben gezogen. Nämlich die, dass es fürs Fremdgehen keine Entschuldigung gibt. Man ist niemals einfach »nur« dreiundzwanzig, wenn zu Hause die geliebte Frau auf einen wartet. Auch dann nicht, wenn man auf sie warten sollte. Und die fremde Person, aufgegabelt auf der Straße, ist auch nur so lange »interessant«, bis dich der Partner erwischt, mit dem du dir unter Umständen ein gemeinsames Leben bis zum hohen Alter vorstellen kannst. Ich sollte es wissen, denn das beschreibt so ungefähr jenen Fehler, mit dem ich die mir liebste Frau aus meinem Dasein vertrieben habe.
Abrupt und unwiederbringlich.
Arschloch – denken Sie jetzt?
Tja, und was für eines!
Daumen hoch! Und das ist nicht das Einzige in puncto Stevens bescheuerter Charaktereigenschaften. Da gibt es nämlich noch jenen Punkt, der mit diesen zugegebenermaßen etwas dämlichen Weiberheldeneinlagen um den ersten Platz kämpft: Feigheit.
Tatsache!
Ja-ja, danke auch für das doppelte Daumen hoch!
Als Jillian an jenem Nachmittag völlig außer Puste – da vierter Stock – in unser Wohnzimmer platzte und mich im Beisein einer einigermaßen entkleideten Tussi vorfand, sah ich ziemlich widerstandslos zu, wie sie sich umdrehte und die Wohnung verließ.
Anstatt sie zu suchen, mit ihr zu reden, sie vielleicht auch nur anzurufen (je nach Grad des Mutes oder der Todessehnsucht, suchen Sie sich das Passende aus), verschanzte ich mich – feige, wie ich war – in besagtem Appartement und gab diesmal dem Selbsthass ausreichend Gelegenheit, mir an die Wäsche zu gehen.
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Zeilen unserer Liebe
قصص عامةDiese Geschichte entstand auf Basis der wahren Begebenheiten. Lediglich die Namen von Protagonisten und Orte des Geschehens wurden verändert, um den Ärger mit der im Buch erwähnten Co-Autorin zu vermeiden. In diesem Buch geht es um meine Jugendfreun...