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"Ich kann es immer noch nicht glauben", seufzte Joshua neben mir kopfschüttelnd. Sein Blick war träumerisch verklärt, lag auf der schönen Landschaft am See. Fahrradfahrer radelten vorbei, Kinder planschten im niedrigen Wasser, Eltern tranken Kaffee im kühlen Schatten der Bäume. "Jetzt bin ich einer der Welternwandler. Einer von ihnen, einer von euch."

Ich nickte. Fast jeden Tag hörte ich diesen Satz von ihm und fast jeden Tag schien sein Blick mehr zu leuchten. Er lief offen durch meine Welt, schloss jedes Detail ins Herz und strahlte die Freiheit, die dieser Ort für ihn bedeutete, einfach aus.

Für Joshua war meine Welt Urlaub von der seinen. Keine Gefahr, keine soziale Ungerechtigkeit aufgrund seiner Abstammung. Und hier machten ihm die leicht elbischen Züge in seinen Genen keinerlei Probleme - im Gegenteil. Ich konnte die neidvollen Blicke der Mädchen, die mich in seiner Begleitung anstarrten, kaum zählen. Groß und mit seinen feinen, definierten Gesichtszügen, eiskalten blaugrauen Augen und dichtem, dunklen Haar, war Joshua ein Hauptgewinn. Ich musste mich selbst zusammenreißen, ihn nicht andauernd verstohlen von der Seite zu mustern.

Die wahren Elben mussten auf Menschen eine unglaubliche körperliche Anziehung auswirken. Kein Wunder, dass Joshuas Vater den elbischen Frauen verfallen war, deren Kleider er geschneidert hatte.

Ich zog einen mehrfach gefalteten Zettel aus meiner Jackentasche. Die Kopie der Dokumente, die Joshuas Familienstammbaum bewiesen. Er wollte sie bei sich tragen, nach den ein oder anderen Namen forschen oder einfach nur etwas in der Hand halten, was ihn bestätigte, wenn ihn Zweifel überkamen. Und er wollte die Schriften seiner Halbschwester Eléh zeigen. Sie teilten sich nicht nur einen grausamen Vater und das Elbengen, sondern auch dieselbe zerrüttete Vergangenheit.

"Hier. Ich habe die Originale zuhause gelassen." Ich reichte Joshua die wenigen Zettel und er faltete sie begierig auseinander. Immer wieder wanderten seine Augen über die Namen und Daten, die wir vor wenigen Wochen im Königreich des Frühlings gefunden hatten.

"Danke." Er lächelte mich an und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann nestelte er mit den Fingerspitzen hinter seinem Nacken an der hauchdünnen goldenen Kette herum, die bis eben noch unter dem dünnen Kragen seines Hemdes verborgen lag. Er ließ das Kettchen in seine Hand fallen und betrachtete ihr edles Glitzern im Sonnenschein.

Das Amulett, das eigentlich an ihr baumeln sollte, fehlte.

"Ich werde jetzt gehen und Eléh wegen des Erbes suchen. In zwei Wochen bin ich spätestens zurück. Jace hat den Anhänger, also wenn etwas ist, weißt du, wie du zu mir kommen kannst, ja?" Joshua nahm meine Hände in seine. Das leicht erwärmte Kettchen strich über meine Haut. "Ich werde meine Heimatwelt mit ganz anderen Augen sehen - und verdammt, Mayra, du wirst mir fehlen." Sein Blick hielt meinen fest, schweifte dann weiter über den See.

Und deine Welt noch viel mehr, schien er in Gedanken hinzuzufügen. Ich lächelte kopfschüttelnd. "Pass auf dich auf. Und grüß Eléh ganz lieb von mir, ja?" Ich erhob mich von der Bank und zog Joshua mit zum Ufer.

"Ich schaue mir deinen Stammbaum nochmal an und morgen gehe ich rüber zu den Beckers - achja, und wenn du am Weltenwandlerlager Conner treffen solltest, grüß den auch, okay?", fuhr ich mit der Aufzählung meiner Pläne fort, "Ich werde ihn auf jeden Fall bald besuchen kommen. Ich freue mich schon."

Nur widerwillig ließ ich Joshuas Hand los. Er versprach mir, sie alle zu grüßen, wie ich es ihm nicht zum ersten Mal an diesem Tag eingebläut hatte, und sich zu beeilen. Seine Welt blieb gefährlich, ich würde mir unendliche Sorgen machen, ehe er wieder zurückkehrte. Die letzten Wochen in meiner halbwegs friedlichen Welt waren erholsam und entspannt gewesen.

Joshua gab mir einen letzten Kuss, murmelte mir besänftigende Worte zu und watete an einer sichtgeschützten Stelle des Ufers in das seichte Wasser.

Silver StoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt