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Mein Blick schweifte über die rotbraunen Blätter vor dem Fenster. Regen hatte sie von den Ästen gepeitscht und einige von ihnen waren an dem kalten Glas der Scheibe klebengeblieben.

Der Spätsommer hatte meinen Heimatort verdammt früh verlassen, aber ich konnte leichten Herzens behaupten, dass ich vom Sommer in diesem Jahr doch mehr als genug gesehen hatte. Ich schmunzelte bei dem Gedanken an die sengende Hitze, die mich auf so vielen langen Wanderungen gequält hatte. Ich spürte die prickelnden Sonnenstrahlen noch immer auf meiner Haut, während draußen der Regen an die Scheiben trommelte. Sie war noch immer gebräunt. Es war keinen Monat her.

Wie das Licht sich in den warmen Seen gespiegelt hatte, wie es von dem goldglitzernden Grund reflektiert worden war...

Ich wühlte mit fahrigen Händen und immer ferner abschweifenden Gedanken einen Bleistift aus meinem Etui. Die Stimmen um mich herum, das Ticken der Uhr und Kratzen der Federn verschwamm zu einem dumpfen Nichts im Hintergrund meiner Aufmerksamkeit.

Ich zeichnete ein hübsches, großes J auf die Rückseite meines Arbeitsblattes. Dachte an die Blumen, die Drachen, die hohen grünen Berge...

"Wie gedenken Sie Ihre Aufgaben zu bearbeiten, wenn das Blatt umgekehrt liegt?"

Ich zuckte zusammen. Mein Lehrer stemmte vor meinem Tisch die Hände in die Seiten. Ich hatte mich schon viel zu oft mit ihm angelegt - wir hatten mittlerweile beide keine Lust mehr, uns gegenseitig anzukeifen. Seufzend kapitulierte ich und wendete augenverdrehend das Arbeitsblatt um.

"Arbeitsverweigerung. Unterkurs, wenn das so weiterläuft. Nicht mein Problem, Sie haben selbst die Pflicht, Ihre Leistungen unter Beweis zu stellen."

Tief einatmend hob ich den Kopf. "Unter fünf Punkte, soll das Ihr Ernst sein? Weil ich mein Blatt umgedreht habe?" Ich senkte die Stimme. "Ich erbringe Leistung, aber wie ich mein Blatt wende hat wohl wirklich keinen Einfluss darauf." Gereizt setzte ich mich auf. Nun hatte er meine Toleranzgrenze überschritten und die kleine Rebellin in mir geweckt.

Mein Lehrer lächelte schief. "Ich lasse nicht mit mir diskuti-"

Ein hohles Klopfen unterbrach ihn. Angespannt wandte ich mich zur Tür, gleichzeitig atmete ich erleichtert auf. Er handelte subjektiv, ich konnte es sowieso nur schlimmer machen, mit jedem Wort, das ich sagte.

Der Kurs um mich herum wurde ruhiger, einige drehten neugierig die Köpfe. Ein unbekanntes Gesicht lugte durch den Türspalt herein.

"Verzeihung." Ein junger Mann, keine zehn Jahre älter als ich. Desinteressiert blickte ich wieder hinab auf mein Blatt und versuchte, meine aufsteigende Wut zu unterdrücken - mein Lehrer verpisste sich glücklicherweise zu dem Fremden.

Extrapolieren Sie die vorliegende Quelle des Propaganda... Ich hatte keine Lust darauf.

Fassen Sie die zuvor zitierte Rede in eigenen Worten... Nicht schon wieder eine Inhaltsangabe - immer und immer dasselbe, Tag ein, Tag aus, monoton und routiniert, ermüdend und nervenzehrend. Ich konnte das, ich brauchte keine Zusammenfassungen mehr üben als säße ich noch in der sechsten Klasse.

"Mayra Neumann!"

Wieder zuckte ich zusammen. "Ich arbeite doch!", schleuderte ich meinem Lehrer patzig entgegen, bevor ich mich zurückhalten konnte.

Mein Lehrer öffnete den Mund, doch der Besucher kam ihm zuvor. Sanft lächelnd schaute er mich an. Dieses Lächeln... es kam mir bekannt vor... kurze Haare, Dreitagebart; wer war das nur?

"Mayra? Darf ich dich einen Moment sprechen?" Er winkte mich zur Tür. Perplex starrte ich ihn an. Er nickte mir zu, mein Lehrer schüttelte abwertend den Kopf. Ich erhob mich zögerlich.

Silver StoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt