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"Guten Morgen! Frühstück, ihr zwei. Aber Beeilung, es ist schon gleich elf Uhr. Jace und Susan habe ich auch gerade geweckt." Mit diesen Worten wurden gnadenlos die Jalousien hochgerissen. Markus liebte das. Er meinte, nichts lehre einen Jugendlichen den richtigen Umgang mit Alkohol besser, als ein ordentlicher Kater.

"Mir geht's super, musst gar nicht so grinsen", murmelte ich verschlafen in mein Kissen. Oh Gott, war mir schlecht.

"Na dann bist du sicher in zehn Minuten unten. Schlafanzug ist auch geduldet, aber zack, wenigstens schnell, ich habe Hunger." Markus stapfte wieder hinaus und rüber zu Susan.

Joshua stöhnte neben mir auf. "Ich hatte seit Wochen nichts getrunken, gestern wurde wirklich grenzwertig." Er schlug sich die Hände vor das Gesicht.

Gestern? Gestern... Angestrengt puzzelte ich die wenigen Bilder, die in meinem Kopf übriggeblieben waren, zusammen.

"Oh, danke für's Retten übrigens", wandte ich mich an Joshua, der sich träge die Augen rieb.

"Immer wieder gerne", er wandte sich zu mir, "aber geht es dir endlich wieder besser? Du bist noch vor der Haustür eingeschlafen, sei froh, dass ich dich tragen kann. Aber wenigstens hast du aufgehört zu weinen." Er forschte in meinem Gesicht nach einer Reaktion.

Ich zuckte zusammen. "Da war ja was..." Ich wurde knallrot. "Ich komme nur noch bis zur Bushaltestelle, ab dann weiß ich nichts mehr... oh nein, Joshua, es tut mir so leid. Das ist mir so peinlich." Mit erhitzten Wangen schlug ich mir die Hände vor den Mund. Mein Herz pochte. Wieso hatte ich nur nicht die Kontrolle behalten können?! Meine Welt hatte mich endgültig wieder. Verärgert über mich selbst raffte ich mich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Wow, war der Boden heute wackelig.

"Halb so schlimm", winkte Joshua ab. "Ich glaube Susan geht es schlechter - sie hat sich über den einen Barkeeper übergeben."

Ich prustete los. "Danke, jetzt muss ich mich nicht mehr am meisten schämen!" Und gemeinsam tapsten wir kreidebleich die Treppe hinunter.

In der Küche summte die Kaffeemaschine im Duett mit dem Radio.

"Was habt ihr eigentlich gestern Nacht angestellt?!" Meine Mutter stand vor dem Küchentisch, an dem Susan saß und den Kopf in die Hände legte, und stemmte die Arme in die Seiten. "Ich habe immer erlaubt, dass ihr feiern geht - unter der Bedingung, dass es niemals Ärger gibt oder wir euch abholen müssen. Aber Susan, du hast das ganze Haus wachgemacht, so oft wie du ins Bad gerannt bist!" Verärgert stellte sie vor ihr einen Tee auf den Tisch. Jace blieb still.

Dann drehte sie sich zu Joshua und mir. "Und ihr zwei - ihr habt zwar nicht gestört, aber halb fünf? Wirklich? Wir hatten mal halb vier ausgemacht, aber daran erinnert ihr euch wahrscheinlich alle nicht mehr. Und jetzt esst, sonst geht es euch nur noch schlechter. Kalorien und Koffein." Damit stellte sie eine Colaflasche mit zu den anderen Getränken. Sie seufzte und setzte sich mit uns an den kleinen Küchentisch. Markus hatte noch einen Stuhl aus dem Wohnzimmer dazugeholt.

Wir schwiegen, aber Joshua und ich warfen uns einen erleichterten Blick zu. Dank Susan waren wir davongekommen.

"Und wie war's bei euch gestern?", wandte ich mich an meine Eltern, um die Stille zu brechen.

Markus nickte Mama zu, deren Augen schon zu strahlen begannen. "Super! Wir waren in einem ganz schicken Restaurant, drüben im Nachbarort, total tolle Küche. Und das Ambiente, das..." Und schon war sie in ihrem Element und wieder zufrieden.

Nach einer guten Stunde verzogen Joshua und ich uns wieder auf mein Zimmer. Mir ging es besser und auch Joshua wirkte wie immer.

Allerdings wurde er immer schweigsamer.

Er fuhr sich durch das braune Haar. "Du... Mayra... ich glaube, ich sollte dir langsam mal etwas erzählen." Zörgerlich nahm er auf meinem Bett Platz. Ich wurde sofort aufmerksam.

"Ja? Was gibt's denn?" Ich suchte erwartungsvoll seinen Blick.

Er atmete tief durch, schien seine Gedanken zu filtern und zu sortieren.

"Letztens, in meiner Welt, sind mir meine Brüder wieder über den Weg gelaufen. Von Eléh habe ich aber noch nichts Neues gehört." Er zuckte mit den Schultern. Fragend hob ich die Hand und deutete auf seine Augenbraue, er nickte unentschlossen. "Nicht ganz. Ich bin mit Silly Daniels Leuten im Auftrag der Garde aneinandergeraten - meine Brüder waren mit ihnen zusammen. Ich verstehe bis heute nicht, wie sie sich diesen irren Räubern anschließen konnten... dafür sind sie viel zu klug. Sie haben mich absichtlich nie getötet." Joshua legte die Hände in den Schoß, als würde er über das Wetter reden und nicht über das Schicksal einer zerrissenen Familie.

Ich atmete durch. "Und weiter?" Wollte ich es wirklich wissen...?

Ein kurzes, lautes Klopfen an meiner Zimmertür unterbrach das Gespräch. Joshua hatte bereits den Mund geöffnet um auszusprechen, was so lange einen Schatten auf mein Gemüt geworfen hatte, als meine Mutter in das Zimmer platzte. Ich stöhnte innerlich auf. Genervt wandte ich mich zur Tür.

"Mayra. Denk dran, dass wir in eineinhalb Stunden losmüssen, und mach dich fertig. Und wir wussten nicht, dass Joshua und Jace hier sein würden... Oma hat für den Geburtstag den Tisch nur für fünfzehn Personen bestellt, das tut mir leid, aber regelt das unter euch." Sie hob entschuldigend die Hände und verschwand wieder.

Ich schlug mir die Handflächen vor die Stirn. "Ach, verdammt, stimmt ja! Meine Großeltern feiern ihren Fünfundsiebzigsten gemeinsam, darum sollte ich nicht so lange feiern gehen... ich habe es total vergessen." Erschrocken starrte ich Joshua an, hin und her gerissen von dem wichtigen Anlass und Joshuas Informationen.

Dieser lächelte nur sanft. "Ich möchte dir vorher noch etwas geben, aber vergiss den bitte nicht irgendwo." Er streckte sich und zog eine kleine Schachtel aus der Tasche seines Gardejacketts, das an meinem Schrank hing, hervor. "Hier. Es ist die beste Lösung." Er drückte mir den quadratischen Karton in die Hände. Auf seinem Deckel befand sie die goldene Aufschrift eines Juweliers. Überrascht und etwas überrumpelt hob ich den dunkelroten Deckel der kleinen Schachtel an.

Ein goldenes Blitzen strahlte mir entgegen. Ein schmaler, schlichter Goldring steckte aufrecht im Samt des Inneren der hübschen Box. Ich schnappte nach Luft und hob den Blick. "Wow... Joshua... was bedeutet das?"

Zögerlich nahm ich den Ring aus seiner Schachtel, Joshua nickte mir aufmunternd zu. "Sieh ihn dir genau an, dann weißt du es."

Ich drehte das schmale Schmuckstück im Licht. Kleine, kaum sichtbare Schnörkel und Muster blitzten auf, offenbarten mir die Zugehörigkeit des Ringes. Ein bewunderndes Lächeln tauchte in meinen Mundwinkeln auf. "Das... ist verdammt klug." Anerkennend nickte ich, als Joshua einen zweiten, breiteren Ring aus seinem Portemonnaie hervorzog und sich an den Finger steckte.

"Jace hat den dritten Ring. Schließlich war das Amulett ursprünglich sein Schlüssel und Susan kommt scheinbar auf andere Weise von Welt zu Welt", erklärte Joshua die Ringe betrachtend. Ich erinnerte mich an Susan's goldenen Armreif, den sie angeblich zu ihrer Konfirmation geschenkt bekommen haben sollte - kein Wunder, dass ich mich daran nicht erinnern konnte. Dieser Armreif musste ihr Schlüssel für den Goldsee sein.

Ich schob den Ring vorsichtig auf meinen Mittelfinger. Zu klein. Ich probierte einige Finger aus, bis er sich endlich perfekt an meinen linken Ringfinger schmiegte. Wunderbar - er war bequem und würde mich als Rechtshänderin auch nicht beim Schreiben stören. Meine Augen leuchteten. "Danke, Joshua." Ich fiel ihm um den Hals. Endlich war jedem von uns ein eigener Zugang zu der anderen Welt gesichert. "Ich vermisse deine Welt."

Joshua lächelte nicht mehr.

"Dann bist du vielleicht nicht allzu enttäuscht, wenn ich dir beichten muss, dass ich schon sehr bald zurückgehen werde."

Silver StoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt