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„Weißt du Violet, es war genau hier. Vor genau einem Jahr."

Ich reiße meine Augen auf, werfe dem Erschienenen einen vor Wut funkelnden Blick zu.

„Geh Tate! Ich hatte dir doch gesagt, geh weg, lass mich in Ruhe!" Doch die geschrienen Worte schüchtern den Blonden nicht ein. Stattdessen lässt er sich auf dem Badewannenrand nieder, streckt seine Hand aus, als wollte er mein Gesicht berühren, doch ich reagiere schneller und zucke weg.

„Du hast die Tabletten vor einem Jahr in deinem Zimmer geschluckt. Ich habe dich hier her gebracht. Ich wollte wirklich nicht, dass du stirbst, Violet. Ich habe wirklich versucht dich zu retten. Weil ich dich geliebt habe, nein, ich liebe dich immer noch. Du bist in Liebe gestorben, Violet!"

Mein Blick, der immer noch auf ihm liegt, versteinert sich.

„Davon will ich nichts wissen Tate. Du bist ein Psycho. Zu solchen Gefühlen kannst du nicht mal fähig sein, genauso wenig wie ich. Wir sind tot! Wir können keine Gefühle haben! Vielleicht verdrängst du das ja ganz gut, aber ich nicht. Ich weiß, was ich bin. An mir ist nichts mehr lebendig oder menschlich."

Durch seinen Blick zuckt für eine halbe Sekunde der Schmerz über meine Worte, dann erkenne ich ihn nicht mehr durch den Rauch hindurch. Wie von selbst haben meine Finger nach der Schachtel Zigaretten gegriffen und nun hüllt mich der Rauch ein.

„Geh jetzt Tate. Von all dem was du noch zu sagen hast möchte ich kein Wort mehr hören. Geh!"

Genauso schnell wie der blonde Junge im Badezimmer aufgetaucht ist, ist er auch wieder verschwunden.

Kapitel 1:

„Ich muss sie nur noch über etwas in Kenntnis setzen,..."

Es sind dieselben Worte wie bei uns, nur ist es jetzt etwa eineinhalb Jahre her und sie meint nicht die beiden Jungs, die Vermieterin spricht heute von meiner Familie. Irgendwie habe ich das Bedürfnis die Familie aus dem Haus zu scheuchen. Die Vier sollten hier nicht wohnen, genauso wenig wie meine Familie es damals sollte. Doch wie soll man normal denkende Leute davon abhalten in ein so altes, edles Haus mit spannender, etwas gruselig angehauchter Hintergrundgeschichte zu ziehen? Richtig, es wird unmöglich sein. Mir ist klar, dass auch diese Familie hier sterben wird. Bisher ist nur eine lebend rausgekommen. Das war vor einem Jahr. Ein jüngeres Paar mit einem Sohn in meinem Alter. Wir, die Toten, haben es geschafft sie zu vertreiben, bevor sie in diesem Haus sterben konnten. Die Drei haben nicht eine Nacht hier verbracht. Aber jetzt spüre ich, dass wir es diesmal nicht schaffen werden. Diesmal nicht. Der großgewachsene Vater unterschreibt den Kaufvertrag. Dieselbe Maklerin, die auch uns dieses Haus verkauft hatte, übergibt der Mutter mit einem freundlichen, zufriedenen, vertrauensvollen Lächeln die Schlüssel.

Dass sie kein schlechtes Gewissen hat, dieses Haus an all diese Leute zu verkaufen, immer und immer wieder! Wenn sie doch nur wüsste, was hier geschieht!

Das Mädchen lächelt ihren Bruder mit einem etwas zu triumphierenden Lächeln an. In ihrem Blick liegt etwas, das mich beunruhigt.

Sie wollte dieses Haus! Sie und ihr Bruder! Sie wollten es nur wegen uns! Wegen der Toten, wegen unserer Leichen! Was haben sie nur vor?! Ob ihre Eltern davon wissen?!

Die Eltern beziehen das Zimmer, in dem auch schon meine Eltern geschlafen haben.

Der Junge bekommt mein altes Zimmer, in dem irgendwann vor mir Tate gewohnt hatte.

Das Zimmer des Mädchens liegt zwischen dem Zimmer in dem ich die Tabletten geschluckt habe und dem, in dem ich letztendlich gestorben bin.

„Schon komisch zu sehen, dass hier neue Leute einziehen, nicht? Denn in gewisser Weise leben wir ja immer noch hier...", sagt mein Vater, der seine kalten Finger auf meine Schulter gelegt hat. Psychologe begeht Selbstmord – es stand wochenlang auf der Titelseite jeder Zeitung Amerikas, die Inhalte alle gleich und doch verschieden, voller Theorien, nur Schwachsinn. Dabei war es bei ihm nicht einmal Selbstmord. Er wurde in Treppenhaus dieses Hauses erhängt.

„Wir leben hier nicht mehr! Wir sind tot, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest!", schreie ich ihn an, schüttele meine Schulter, sodass seine Hand schlaff herunterfällt.

„Die Familie sieht nett aus. Und glücklich, ganz wie wir. Du könntest dich mit den Kindern anfreunden. Sie scheinen im gleichen Alter zu sein wie du Schatz", redet er unbeirrt weiter.

„Na klar, ich freunde mich mit denen an. Ist ja nicht so als wäre ich dann quasi in deren neues Haus eingebrochen. Zufälligerweise Dad, bin ich tot, für immer an dieses Haus gefesselt!"

„Tate hat es auch geschafft sich mit dir... äh... anzufreunden... Auch wenn ich damit nicht ganz einverstanden war."

„Lass Tate da raus!", kreische ich, plötzlich voller Wut, „Ich will und werde hier nicht über ihn reden! Denn wenn ich überhaupt mit jemandem über Tate rede, dann als allerletztes mit dir!"

Aufgebracht verlasse ich das große Wohnzimmer, habe noch keine richtige Ahnung, wohin ich möchte, bis ich mich auf den Stufen vor dem Haus wiederfinde, natürlich rauchend.

„Bekomme ich auch eine, wenn du schon so frech vor meiner Haustür sitzt?", fragt plötzlich jemand. Da meine menschlichen Reflexe immer noch vorhanden sind, zucke ich augenblicklich zusammen. Der braunhaarige Junge sitzt neben mir.

„Darfst du überhaupt schon rauchen?", frage ich etwas spöttisch und halte ihm noch in demselben Zug die Schachtel hin.

Lächelnd nimmt er Eine.

„Du kannst hier ab sofort nicht mehr rauchen, das ist dir hoffentlich bewusst. Meine Mutter und meine Schwester würden dich töten, wenn sie dich hier sehen, rauchend auf unserem Grundstück, ziemlich mutig", meint er zwischen zwei Zügen.

„Hatte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass hier nochmal jemand einzieht, nach dem was so mit den letzten Bewohnern passiert ist. Wenn selbst der Psychologe Selbstmord begeht... Wenn man den Gerüchten glaubt, sollen hier schon circa dreißig Menschen gestorben sein. Hier drin leben würde ich nie wollen, aber zum heimlich Rauchen gibt es keinen besseren und stilleren Ort als das berühmte Mörderhaus. Jeder macht einen Bogen drum. Deine Familie weiß nicht, dass du rauchst?", frage ich etwas misstrauisch.

„Meine Schwester würde mich umbringen, von meiner Mutter ganz zu schweigen...", antwortet er, bläst Rauch in die Luft vor uns.

„Also darfst du eigentlich doch nicht rauchen."

Ich lächle ihn an, nehme einen erneuten Zug.

„Darüber könnte man jetzt streiten, aber bevor wir streiten wüsste ich gerne wenigstens deinen Namen", sagt er, grinst mich von der Seite an.

Ich lasse mir zwei Züge Zeit, bevor ich antworte.

„Violet. Und deiner?"

Er lässt sich ebenfalls zwei Züge Zeit.

„Ethan."

Noch ein Zug, dann drückt er die Zigarette aus.

„Ich sollte dann wohl besser wieder rein gehen. Treffen wir uns morgen wieder hier? Zur gleichen Uhrzeit?", fragt er, ein schiefes Lächeln auf den Lippen. Ethan steht auf. Ich nicke.

„Gut Violet, dann bis morgen", sagt er. Jetzt muss ich sein Lächeln erwidern.

„Bis morgen dann Ethan. Und pass auf, wem du begegnest, man riecht den Rauch."

Hinter dem großen Jungen fällt die Tür ins Schloss.

Die letzten Toten im Mörderhaus (AHS)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt