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Wenn ich meine Augen schließe, kann ich mein altes Leben sehen. Die Erinnerungen verschwimmen zwar, schneller als mir lieb ist, doch manchmal sind sie auch schärfer als je zuvor. Wir waren eine glückliche Familie, meine Mom, mein Dad und ich. Bis zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter ihr Baby noch vor der Geburt verlor und mein Dad sie um darüber hinwegzukommen mit einer Jüngeren betrog.

Anstatt sich scheiden zu lassen wurde ich aus diesem großen, modernen Haus und der vertrauten Umgebung, meinem normalen Leben herausgerissen, nach Los Angeles, mitten in die Großstadt hinein. Dieser Neuanfang sollte uns wieder so glücklich machen wie vor dem Missgeschick, wobei mich mein altes Leben nicht einmal besonders gestört hatte, ich fand es sogar richtig angenehm, doch was ich davon hielt hatte keinen interessiert.

Man kann wohl sagen, ich war alles andere als begeistert von diesem Umzug.

Bis ich dieses Haus sah.

Schlussendlich war ich diejenige, die unbedingt hier bleiben wollte. Und ich war auch die Erste meiner Familie, die hier starb.

Jetzt sind wir alle tot, für immer an dieses Haus - für immer aneinander - gebunden.

Und die Frau oder eher das Mädchen, mit dem Dad meine Mom betrogen hatte sitzt hier ebenfalls als Tote fest.

So viel zu einem Neuanfang und meinem versprochenen, glücklicheren Leben, das ich nun niemals bekommen werde.

Kapitel 2:

Wenn du lebst, versuchst du möglichst lang in die Nacht aufzubleiben, am Morgen möglichst früh wieder aufzustehen, möglichst viele Nächte durchzumachen, möglichst viel vom Tag mitzunehmen.

Würdest du all diese Leute fragen, warum sie versuchen dem Schlaf zu entkommen, wird dir der Großteil von ihnen sagen, dass sie noch genug schlafen werden, wenn sie tot sind, dass sie die Zeit, die sie mit Schlafen verschwenden noch brauchen, weil sie doch sonst zu wenig Zeit haben, um all das zu schaffen, was sie schaffen müssen. Dass es sowas wie... Geister überhaupt geben könnte wird hierbei vollkommen übersehen, für Fantasien ist in ihrer Welt sowieso kein Platz, es ist verschwendete Zeit.

Aber bist du ein... Geist, so wie ich, dann kannst du überhaupt nicht schlafen. Diese Ruhe wirst du nicht finden. Jede Nacht sitze ich auf der Couch, hoffe darauf endlich einmal einzuschlafen, doch wenn du einschlafen willst, kannst du es einfach nicht. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden dort zu sitzen und zu warten, bis die Nacht dem Tag wieder weicht. Manchmal ist es auch umgekehrt, eigentlich ist es nur eine Endlosschleife, nichts passiert, die Zeit zieht langsam schleichend voran, Sekunden fühlen sich wie Stunden an, die Stunden wie Tage und die Tage ziehen sich wie Jahre dahin. Ein Geist zu sein ist verdammt langweilig, vor Allem, wenn du nicht schlafen kannst.

Doch heute Nacht sitze ich nicht im Wohnzimmer.

Ich sitze auf der Bettkante Ethans Bett und betrachte sein friedlich schlafendes Gesicht.

„Als du noch geschlafen hast, habe ich dich auch immer so angesehen", sagt jemand. Wieder einmal erschrecke ich.

„Jetzt verstehe ich auch, warum du mir immer zugesehen hast. Schlafende Menschen haben echt was Beruhigendes", erwidere ich, streiche dem Schlafenden abwesend eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich möchte nicht, dass du ihn do ansiehst Violet", sagt Tate. Plötzlich liegen seine Hände auf meinen Knien, seine Lippen nur wenige Zentimeter von meinen entfernt.

Wie von selbst heben sich meine Hände an seine Wangen, ich ziehe sein Gesicht näher an meines, so nah, bis sich unsere Lippen berühren, auch wenn sie es nur für den Bruchteil einer Sekunde tun.

„Nein Violet, ich kann dich nicht glücklich machen. Er macht dich auch nicht glücklich Violet, das wissen wir beide, aber er macht dich immerhin glücklicher als ich es kann. Schon vergessen, du bist wegen mir unglücklich geworden, weil ich es nicht geschafft hatte dich zu retten."

„Tate nein! Das war, ist nicht deine Schuld! Das...", flüstere ich, dieses Thema bringt mich immer zur Verzweiflung, doch ich breche den Satz ab als ich merke, dass Tate bereits verschwunden ist.

Das war nicht deine Schuld. Suizid ist nie eines Anderen Schuld, nicht direkt zumindest. Es ist eine Entscheidung, die man nur selbst endgültig treffen kann. Ich habe nicht gewusst, dass du tot bist, selbst wenn hätte ich es nicht getan um für immer bei dir bleiben zu können. Es war meine Schuld, nicht deine Tate. Dafür könnte ich dir niemals die Schuld geben, weil ich dich liebe.

Nach einiger Zeit komme ich mir ernsthaft dumm vor, neben einem Schlafenden zu sitzen. Das lässt mich ihn nur noch mehr um seine Menschlichkeit beneiden, als ich es bereits schon tue. Frustriert stehe ich auf, gehe sinnlos in dem Zimmer auf und ab. Mir war noch nie mehr nach schlaf als jetzt gerade, in diesem Moment. Ich vermisse diese Ruhe, die Träume, gute wie schlechte, dieses Gefühl beim Übergang von Bewusstsein in Schlaf, wenn der Schlaf stärker ist als dein Wille wach zu bleiben und dich einfach übermannt.

Ethan schlägt die Augen auf, während ich gerade im offenen Fenster sitze, die Füße nach draußen baumelnd. Wenn er herübersieht, dann wird er mich sehen, weil ich will, dass er mich immer sehen kann, wenn er es auch will, wenn ich bei ihm bin. Sollte er mich brauchen, vorausgesetzt es ist auf diesem Anwesen, werde ich da sein. Außerhalb des Gartenzaunes kann ich mich nicht aufhalten.

„Was zur Hölle machst du in meinem Zimmer?!", fragt er schockiert, als sein Blick das Fenster erreicht, in dem ich sitze.

„Du hattest dein Fenster auf, ich bin hochgeklettert", sage ich trocken, als wäre es vollkommen normal mitten in der Nacht bei einem Fremden im Fenster zu sitzen und ihn beim Schlafen zu beobachten, als würde ich sowas täglich tun.

Er starrt mich an, wie man Leute eben anstarrt, von denen man solch komische Aktionen niemals erwartet hätte. Er starrt mich an als wäre ich ein Geist. Natürlich kann er nicht wissen, dass ich wirklich ein Geist bin.

Ich kann erkennen, wie angestrengt er überlegt, ob er das Fenster vor dem Schlafen gehen offen ließ, dass er es eigentlich schloss, doch da ich hier sitze, könnte es überhaupt nicht sein, dass er das Fenster nicht offen hatte.

Die Verwirrtheit seiner Gedanken schüttelt er nur den Kopf.

„Hast du was zu rauchen da?", fragt Ethan schließlich und steht auf. Als ich zwei Zigaretten zücke geht er auf mich zu, setzt sich nur in Boxershorts bekleidet neben mich auf die Fensterbank.

Zuerst sitzen wir nur schweigend rauchend da, bis er es bricht: „Violet du bist echt verrückt."

Daraufhin schenkt er mir ein breites Lächeln. Auf sein Lächeln antworte ich ebenfalls nur mit einem Lächeln, meine Lippen bewegen sich nicht, die Worte bleiben in meinem Hals stecken. Wüsste er, dass er hier gerade mit einer Toten redet, würde er vermutlich eher sich selbst für verrückt halten und mich nur als eine Einbildung sehen, als jemand der nicht existiert. Jedoch scheint er es nicht negativ gemeint zu haben, dass ich verrückt bin, nein er scheint es fast zu mögen.

„Eigentlich fände ich es echt gruselig, wenn meine Freunde nachts einfach auf meiner Fensterbank sitzen würden, mitten in der Nacht...", er nimmt einen Zug seiner Zigarette, „doch bei dir ist es irgendwie anders. Dich finde ich nicht gruselig. Ich mag diese Art, die du hast Violet. Und vielleicht hältst du mich jetzt für verrückt aber..."

Das Lächeln auf seinem Gesicht bleibt bestehen, als er seinen Oberkörper etwas herüberbeugt und sich der Abstand zwischen unseren Lippen immer weiter verringert...

Die letzten Toten im Mörderhaus (AHS)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt