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Das Komischste an meinem Tod ist, dass es niemand wusste. Nicht einmal ich selbst. Eigentlich müsste man doch wissen, dass man gestorben ist, oder nicht? Zumindest als Geist sollte man doch die Gewissheit vom Tod haben.

Meine Eltern hätten doch merken müssen, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt, dass sie nie einen Schritt außerhalb des Zaunes, der das Haus umgibt gemacht hatte, dass sie nichts mehr gegessen hatte. Doch nicht einmal ich selbst habe es bemerkt.

Ich habe nicht gemerkt, dass ich gestorben war.

Tate war der Einzige, der es wusste. Er war dabei, bei meinem Tod, als ich gestorben bin.

Ein paar Tabletten, die ich zu viel geschluckt habe. Eigentlich wollte ich nur einschlafen. Nicht für immer natürlich. Ich wollte einfach endlich mal wieder am Stück schlafen, ohne Träume, ohne ständig aufzuwachen.

Erst als ich das Anwesen einmal verlassen wollte, merkte ich, dass etwas nicht stimmte, ich trat aus dem Tor und war wieder im Haus, immer und immer und immer wieder.

Daraufhin zeigte Tate mir den Hohlraum unter dem Wohnzimmer.

Oder sollte ich eher sagen - er zeigte mir das Versteck meiner Leiche.

Und niemand, nicht einmal ich selbst, hat es bemerkt.

Der Unterschied zwischen Leben und Geisterleben ist gar nicht so groß. Kurz gesagt, der Unterschied fällt keinem auf.

Kapitel 3:

Bei dem Gedanken daran, Ethan könnte mich jede Sekunde küssen, den Abstand zwischen uns überbrücken, löst ein komisches Gefühl in mir aus.

Ohne darüber nachzudenken drehe ich meinen Kopf weg, seine Lippen streifen meine Wange. Aus dem Augenwinkel sehe ich ihn leicht erröten.

„Du hast Recht, es wäre doch verrückt... Tut mir leid...", seine Stimme zittert vor Enttäuschung und Verwirrung. Ich lege meine Hand auf seinen Oberarm. Er zuckt vor der Kälte meiner Haut nicht einmal zurück.

„Ethan, das Ganze ist nur verrückt, weil wir uns nicht kennen. Wir sind uns jetzt zweimal begegnet und beide Male bin ich quasi bei dir eingebrochen. Das ist verrückt. Aber es ist garantiert nicht unrealistisch", und bringe irgendwie ein Lächeln zustande.

„Sehen wir uns morgen trotzdem wieder?", fragt Ethan, drückt seine Zigarette auf der Fensterbank aus. Seine Augen suchen meine, er hält meinen Blick fest um darin nach einer Antwort zu suchen.

„Klar. Ich werde da sein"; flüstere ich.

Ein zweites Mal in dieser Nacht beugt er sich zu mir rüber, ich schließe die Augen, diesmal fest entschlossen meinen Kopf nicht wieder wegzudrehen, da öffnet sich die Tür zu diesem Zimmer und Ethan zuckt erschrocken weg.

Schade... Mir gefällt seine Hartnäckigkeit, dass er mir genau zeigt, was er will und sich nicht davon abbringen lässt, wie verrückt die Situation ist. Für ihn ist es ja sowieso nur halb so verrückt wie für mich.

„Verdammt Leyah, was tust du hier?! Was soll das?", fährt er das Mädchen, welches in Jeans und kurzem Top im Türrahmen aufgetaucht ist und beschlossen hat, vorerst dort stehen zu bleiben.

„Die Frage solltest wohl eher du mir beantworten, Bruderherz. Warum ich hier bin solltest du eigentlich ganz genau wissen. Immerhin war es deine Idee das Haus nach irgendwas aus der Vergangenheit zu durchsuchen. Stattdessen tust du hier... was genau, wenn ich das überhaupt hören will?"

„Leyah, gibst du mir fünf Minuten? Ich bin sofort bei dir, aber das gerade geht dich jetzt echt nichts an", erwidert Ethan nur. Nach außen hin wirkt er gefasst, doch ich merke seine aufkommende Wut.

„Ich gehe wohl besser. Wir sehen uns Ethan", sage ich leicht verlegen und rutsche vom Fensterbrett, falle einige Meter und komme auf dem Boden auf. Ethans erstaunten Blick im Rücken gehe ich in den Garten auf das Tor zu. Für den Jungen im Fenster sieht es aus, als würde ich das Grundstück verlassen, doch sobald ich das Tor geöffnet habe durchfährt mich ein Ruck und ich stehe wieder im Flur, im Inneren des Hauses. Ab sofort bin ich darauf bedacht von niemandem gesehen zu werden. Ich warte kurze Zeit, dann höre ich die leise flüsternden Stimmen der Geschwister.

„Willst du wirklich erst in den Keller? Wir könnten auch im Dachboden anfangen..." Es ist Ethans Stimme, darin schwingt Unsicherheit mit.

„Wir arbeiten uns von unten nach oben durch, das hatten wir doch abgemacht. Kneifst du etwa?", diesmal ist es die weibliche Stimme seiner Schwester, die er soweit ich zugehört habe Leyah genannt hat.

Ihre Stimme klingt belustigt, etwas gereizt.

„Natürlich nicht! Ist ja okay, ich komm ja schon mit."

Kurzzeitig sind die Schritte der Geschwister auf den Stufen das einzige Geräusch im Haus.

„Oder bist du sauer, weil ich dein nächtliches Date gestört habe?" Sie unterdrückt ein gemeines Lachen. Die Lichtkegel der beiden Taschenlampen erreichen das dunkle Holz des Flurbodens. Ethan geht hinter seiner Schwester, im schwachen Licht erkenne ich, wie er die aufkommende Wut herunterschluckt, seine Hand schließt sich fest um den Griff der Taschenlampe. Ich hatte erwartet, dass seine Stimme nun laut und wütend durch das stille Haus hallen würde, doch als er spricht, spricht er leise und gefasst: „Das mit Violet war kein Date, Leyah. Sie saß in meinem Fenster, als ich aufgewacht bin. Wir hatten uns gestern schon unterhalten. Sie ist echt nett, okay? Aber trotzdem ist sie nur eine Freundin."

Leyah, die gerade die Kellertür öffnet, hält inne und kann ein lautes Lachen nun nicht mehr unterdrücken.

„Na wenn ‚nur eine Freundin' so aussieht bei dir, bitte, ist ja deine Sache...", sie macht eine kurze Atempause, „aber sie raucht. Das macht sie nicht gerade sympathisch. Lass dich in nichts reinziehen, okay? Und lass sie das nächste Mal nicht im Haus rauchen. Das ist echt unangenehm."

Ethan lässt das Gesagte unkommentiert und folgt Leyah die Kellertreppe nach unten. Zu meinem Glück hat er die Tür offen gelassen. Ich folge ihnen. Hinter mir schlägt die Tür zu. Die Beiden fahren erschrocken herum, ihre Blicke gehen durch mich hindurch.

„Verdammt Ethan! Was lässt du auch diese verdammte Tür auf?! Hoffentlich sind Ma und Dad nicht aufgewacht!"

„Sorry...", entschuldigt er sich.

„Mach mal das Licht an", befiehlt Leyah.

Der Lichtschalter klickt einmal in der Stille, doch es passiert nichts, das Licht bleibt aus.

„Dann eben ohne Licht, ist ja auch egal", sagt Leyah genervt, dreht sich wieder um und geht die letzten Stufen nach unten. Ethan folgt ihr, ich gehe dicht hinter ihm. Das Mädchen ist wie ich. Muss unbedingt jeden Millimeter dieses Hauses kennen. Inzwischen kenne ich alles hier nur zu gut. Als Tote hat man genug Zeit und weniger Angst um alles anzusehen. Gerade freue ich mich sogar etwas darauf, wenn sie das Labor entdecken. Ich freue mich auf die hohen, schockierten Schreie, die Angst in den Augen, ein wilder, panisch umherzuckender Blick, das Geräusch der Schritte auf dem Steinboden, die sich schnell bewegen, durch die Dunkelheit stolpern und die Treppe versuchen ausfindig zu machen, doch da ihre zitternden Hände die Taschenlampen fallen gelassen haben, stolpern sie erst ein paar Mal, dann werden sie die Treppe nach oben rennen, mit zittrigen Fingern verzweifelt versuchen die Tür zu öffnen, die von innen jedoch etwas klemmt.

Die Geschwister erreichen das Labor. Es ist die einzige Tür hier unten, die nicht klemmt und so stolpert Leyah beim Öffnen mitten in den Raum. Aus ihrem Mund kommt ein spitzer Schrei, doch Ethan beruhigt sie sofort. Seine Augen glänzen vor Begeisterung. Beim Anblick der verschiedenen Experimente, die nie fertiggestellt wurden, wird mir schlecht. Eigentlich gehe ich nie hier her, es ist echt ekelhaft. Doch Ethan geht fasziniert zu den Lagerregalen, sieht sich alles an mit einer Begeisterung, die ich noch nie zuvor bei jemandem gesehen habe.

„Leyah, das ist echt faszinierend, nein es ist genial! Schau dir das an! Hier hat irgendein Doktor oder Chemiker oder sowas gewohnt! Und niemand von den Vorbesitzern war hier je unten! Das muss doch was bedeuten! Ich bin mir sicher, hier unten werde ich brauchbares Material und Antworten finden!"

Die letzten Toten im Mörderhaus (AHS)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt