Data: Dylan_Crise / Subject 7.8
Date / Time: 11.24.2024 4:43pmEr hatte das plötzliche Gefühl, zu fallen. Wie, wenn man aus einem Traum erwacht und glaubt, man hätte über seinem Bett geschwebt und wäre dann heruntergefallen. Er öffnete seine Augen ein Stück. Grelles Sonnenlicht brannte auf sein Gesicht und er versuchte, seinen Kopf davon wegzudrehen.
Entweder hatte er am Abend zuvor vergessen, die Vorhänge zuzuziehen oder seine Mutter hatte sie aufgerissen, um ihn aus dem Bett zu scheuchen.
Der Boden unter ihm fühlte sich seltsam hart an. Verwundert öffnete er seine Augen ganz. Pflanzen. Farne und Blätter, salzige Luft und grelle Sonne. Orientierungslos blinzelte er. Wo war er?
Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, zum Beispiel das letzte, an das er sich erinnern konnte. Aber das schien alles so weit weg zu sein.
Sein Name, Dylan. Und wo er herkam. Das wusste er. Gestern war er ganz normal zu Bett gegangen. Doch was passiert war, dass er nun hier war, das war wie gelöscht.
Es musste irgendein komischer Traum sein. Ein sehr realistischer Traum. Nein, das war unmöglich. Denn wenn er träumte, würde er nicht darüber nachdenken, ob er es tat.
Mit einem flauen Gefühl im Magen setzte er sich auf und wurde augenblicklich wieder zu Boden gestoßen. Ein missmutig aussehender Junge zielte mit einem spitzgefeilten Holzspeer genau auf sein Herz, als würde er nicht zögern, sofort zuzustechen, wenn er sich auch nur einen Millimeter bewegte.
„Carrie, er ist wach.", sagte er über die Schulter hinweg und hinter ihm tauchte ein großgewachsenes Mädchen auf, mit Haaren im hellsten blond, dass er je gesehen hatte.
„Das klärt die Frage, wie wir ihn ins Lager kriegen." Sie nahm ein grobgeflochtenes Seil von ihrem Gürtel und warf es jemandem zu, der hinter ihm stand. „Los, steh auf!" Der befehlerische Ton in ihrer Stimme ließ keinen Wiederspruch zu. Und angesichts der Tatsache, dass wahrscheinlich niemand von ihnen zögern würde, ihn zu töten, wenn er etwas Falsches tat, befolgte er den Befehl und kam langsam auf die Füße. Ein anderes Mädchen, das hinter ihm stand, drehte ihm schmerzhaft die Arme auf den Rücken und band sie fest zusammen.
„Was soll das? Wo bin ich überhaupt?" Der Klang seiner eigenen Stimme verwirrte ihn. Er hatte erwartet, sie würde viel höher und kindlicher klingen. Sowieso fühlte er sich, als hätte man ihn in einen anderen Körper gesteckt.
„Deine Fragen kannst du dir für gleich aufsparen. Wenn du noch dazu kommst.", gab das Mädchen mit den hellen Haaren zurück und stieß ihn vorwärts.
Die kleine Gruppe setze sich in Bewegung. Bei jedem seiner Schritte zog sich alles in ihm zusammen. Was war das hier? Was meinte das Mädchen mit falls er noch dazu kam, Fragen zu stellen?
Während sie liefen wurde er immer wieder in den Rücken gestoßen, damit er ja nicht auf die Idee kam, stehen zu bleiben oder gar wegzulaufen. Er versuchte unauffällig einen Blick auf die anderen zu werfen. Einer der Jungen, der neben ihm lief, hatte eine lange, schmale Narbe quer über die rechte Gesichtshälfte, als hätte ihn jemand mit einem Messer verletzt. Und dass musste schon einige Monate her sein, wenn nicht sogar Jahre. Obwohl hier tropische Temperaturen herrschten, fuhr ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Was war mit diesem Jungen passiert? Wer hatte ihm diese Verletzung zugefügt? Oder was. Ihm gruselte es bei der Vorstellung, dass in diesem Wald vielleicht menschenfressende Tiere – oder vielleicht sogar Menschen – herumliefen.
„Was guckst du so?", blaffte der Kerl mit der Narbe und Dylan senkte seinen Blick beschämt gen Boden.
Wie war er bloß in diese Situation geraten? Gestern Abend war er doch noch zuhause gewesen. Bei seiner Mutter und bei seinem Vater. Es war kurz vor Thanksgiving gewesen, die ganze Familie würde sich heute versammeln. Oder am Tag nach seinem Verschwinden. Mittlerweile war er sich nicht mehr sicher, ob das wirklich gestern gewesen war.
Jetzt war er jedenfalls hier, an diesem komischen Ort. Als wäre er aus seinem Bett gezerrt und hier wieder ausgespuckt worden.
Unter seinen Füßen wurde es uneben und die Sonne schien ihm plötzlich genau ins Gesicht. Sie mussten aus dem Wald herausgetreten sein. Er kniff die Augen zusammen und nach einer Weile, als seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er, dass sie an einem Strand standen. Am gesamten Strand verteilt standen unzählige primitiv zusammengezimmerte Holzhütten herum, die wohl kaum einen Tropfen Regen abgehalten würden. Der Strand war zwar nur etwa fünfzehn Meter breit, aber er ging zu seiner Rechten und Linken weiter, als das Auge reichte.
Überall liefen geschäftig Leute herum. Zumindest taten sie so, als wären sie beschäftigt. Dylan merkte, wie sie ihn musterten. Einige sahen ihn wütend an und machten keine Anstalten, ihren Ärger zu verstecken, andere warfen ihm nur einen misstrauischen Blick zu und widmeten sich wieder ihrer Arbeit. Und ein paar musterten ihn sogar ein bisschen neugierig.
„Am besten bringen wir ihn direkt zu Raya. Von mir aus kann sie entscheiden, was wir mit ihm machen."
Wieder wurde er in den Rücken gestoßen und sie setzen sich entlang des Strandes in Bewegung. Als sie etliche Meter durch den Sand getrottet waren, erkannte er - etwas abgelegen von den anderen - eine größere Hütte, die einen viel stabileren Eindruck machte. Sie steuerten genau darauf zu und traten ein.
Im Inneren der Hütte war es stickig und warm, aber immerhin war er hier vor der prallen Sonne geschützt. Allein die paar Minuten hatten bereits ein brennendes Prickeln auf seiner Haut hinterlassen.
„Setz dich da hin und warte, bis ich wiederkomme.", befahl die Blonde und deutete auf einen laienhaft zusammengenagelten Hocker in der Ecke des Raumes. Dann drehte sie sich zu den anderen herum. „Und ihr helft beim Netze einholen. Heute Abend gibt's ein Festmahl zu Ehren unseres besonderen Gastes."
Der Spott in ihrer Stimme war kaum zu überhören, deshalb nahm er an, dass sie ihn damit meinte. Die anderen gingen hinaus, das Mädchen warf ihm noch einen letzten bösen Blick zu, dann verschwand sie auch.
Nach einigen Minuten allein in der Hütte normalisierte sich sein Herzschlag wieder einigermaßen. Noch immer schwirrten tausende Gedanken in seinem Kopf herum. Wie bin ich hierhergekommen? fragte er sich zum sicher hundertsten Mal, seit er aufgewacht war. Aber nach und nach drang ein vollkommen anderer Gedanken in sein Gehirn. Wie konnte er von hier verschwinden? Am Strand hatte er dutzende Leute gesehen, dass er entkommen konnte, ohne dass es jemand bemerkte, war unwahrscheinlich. Und erstrecht, solange seine Hände auf seinem Rücken zusammengebunden waren.
Er blickte sich in dem Raum um, in dem er saß. Es musste doch irgendetwas zu finden sein, womit er seine Fesseln durchschneiden konnte. An einem der Wände hing ein kaputter und verdreckter Spiegel, auf einem Tisch neben der Tür lagen allerlei verschiedene Gegenstände, dessen Sinn er teils nicht ganz verstand. Doch ein hölzernes Messer war auch dabei. Er stand auf und ging zu dem Tisch herüber. Doch anstatt direkt nach dem Messer zu greifen, blieb er wie angewurzelt stehen und versuchte, zu realisieren, was er grade gesehen hatte.
Im Spiegel hatte er ein Gesicht gesehen. Nicht weiter verwunderlich, wo er doch grade daran vorbeigegangen war. Aber irgendetwas war daran nicht richtig.
Verwirrt stolperte Dylan zurück zu dem Spiegel und betrachtete sich selbst. Er schien älter zu sein, als er es in seiner Erinnerung war. Er fühlte sich auch viel älter, als er es eigentlich sein müsste.
Ein Knarzen bei der Tür ließ ihn aus seinen Gedanken hochschrecken. Doch bevor er reagieren konnte, war es schon zu spät. Wer auch immer in die Hütte getreten war, hatte sich ein Messer von dem Holztisch geschnappt und ihn gegen die Wand gestoßen. Eine Hand drückte sein Gesicht gegen das Holz, die andere hielt noch immer das Messer auf ihn gerichtet.
„Was wollt ihr hier? Haben wir das mit den Territorien letztes Mal nicht deutlich genug geklärt?"
Er versuchte, die Person, die ihn angegriffen hatte zu erkennen. Es war ein Mädchen, etwas älter als er selbst, wie alt auch immer das war. Er schätzte sie auf siebzehn. Ihre Haut war dunkel, ihre Haare zu einem wirren Zopf zusammengebunden. Einige Sekunden funkelte sie ihn mit unbändiger Wut in den Augen an, dann rammte sie das Messer schwungvoll in das Holz des Tisches und lies ihn los.
„Ich weiß nicht wovon du redest. Ich bin grade erst..."
Sie unterbrach ihn. „Spar dir deine Geschichten, ich will nur wissen, was ihr von uns wollt."
Seine Gedanken rasten. Sonst fiel ihm immer etwas ein, aber grade jetzt schien sein Kopf wie leergefegt. Während Sekunde um Sekunde vollkommener Stille verstrichen, sah er wie sich Zweifel in ihrem Gesicht breit machte. Ohne Vorwarnung packte sie sein T-Shirt und zog es an der rechten Schulter herunter, sodass der Stoff ein reißendes Geräusch machte.
„Das kann nicht sein." Sie ließ ihn los und musterte ihn ungläubig. „Wie bist du hergekommen?"
„Ich weiß es nicht. Alles was ich weiß ist, dass ich... eben noch zuhause war und jetzt auf einmal hier war. Wirklich, ich habe keinen blassen Schimmer."
Am liebsten hätte er sie mit Fragen über diesen Ort überschüttet, denn im Gegensatz zu dieser Carrie und ihren Leuten schien sie ihn wenigstens nicht sofort umbringen zu wollen.
„Gut. Ich glaube dir. Vorerst. Das heißt aber nicht, dass ich dir vertraue. Mein Vertrauen muss sich jeder erst verdienen."
Das bezweifelte Dylan keine Sekunde lang. Aber er war froh, dass sie ihm zumindest die Chance gab, die Dinge zu erklären. Sie schien die Anführerin dieser Leute zu sein, Raya, wie die Blonde sie genannt hatte. Also würde es sicher nicht schaden, sich mit ihr gutzustellen. Wenn er hier überleben wollte.
„Wärst du dann vielleicht so nett, meine Fesseln durchzuschneiden, auf Dauer ist das ziemlich unangenehm.", sagte er und lächelte gequält. Seine Handgelenke waren mittlerweile komplett aufgescheuert. Raya nickte, zog das Messer aus dem Tisch und schnitt das Seil durch. Erleichtert rieb er die Stellen, an denen die Fesseln gesessen hatten.
„An die Unannehmlichkeiten kannst du dich schon mal gewöhnen.", sagte sie und trat aus der Hütte.
„Willkommen im Paradies!"
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Bloodstained Sand
AdventureJahr 2021 - Nach einem Flugzeugabsturz wacht Jake mit schweren Verletzungen mitten im Wald auf. Zu seinem Glück ist er nicht der einzige Überlebende. Jedoch ahnt keiner von ihnen, wie weit sie von Zuhause entfernt sind - bis sie herausfinden, was wi...