Das Haupt der Jäger

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Data: Dylan_Crise / Subject 7.8
Date / Time: 11.24.2024 5:56pm

Dylan saß im Sand und beobachtete, wie die Wellen schäumend auf den Strand schlugen. Es hatte irgendwie eine hypnotisierende Wirkung. Vielleicht waren es aber auch die Gedanken an seine Familie, die ihn so in ihren Bann zogen. Was sie wohl grade machten? Wahrscheinlich nach ihm suchen. Ob sie schon zur Polizei gegangen waren oder ob sie glaubten, er sei von Zuhause fortgelaufen?
Wieder einmal kam es ihm vor, als wäre dass alles Jahre her. Dass er seine Eltern das letzte Mal gesehen hatte. Dass er das letzte Mal in seinem Bett gelegen hatte. Aber wie konnte das sein, wenn er jetzt hier war, ohne sich daran zu erinnern, was dazwischen passiert war? Er fühlte sich nicht, als wäre er dreizehn. So alt war er gewesen, als er verschwunden war. Wo waren die letzten zwei oder drei Jahre hin?
Raya hatte ihm darauf keine Antwort geben können. Oder wollen. Denn obwohl sie ihm gegenüber freundlicher war, als jeder andere bis jetzt, schien sie ihm nicht alles gesagt zu haben, was sie zu dem Thema wusste.
Direkt nach ihrem Gespräch war sie zurück an die Arbeit gegangen - was auch immer das bedeuten sollte. Dylan konnte, nein, wollte sich nicht vorstellen, was man als Anführer an einem solchen Ort tat.
Obwohl er jetzt nicht mehr als Gefangener galt, war er immer noch auf sich allein gestellt. Keiner der Leute hier machte den Eindruck, ihm helfen oder überhaupt mit ihm reden zu wollen. Sie musterten ihn nur immer wieder misstrauisch.
Irgendwie war ihm das aber auch recht. Am Ende musste er noch für jemanden den Laufburschen spielen und darauf hatte er wirklich keine Lust. Lieber wollte er einen Weg von hier weg finden. Wo auch immer sie waren, irgendwo musste es Zivilisation geben. Und wenn er tagelang durch diesen Wald streifen musste.
Nach einer Weile entschied er, am Strand entlang zu laufen und alles auf eigene Faust zu erkunden. Vielleicht würde er einen besseren Platz zum Nachdenken finden. Wo ihm nicht die Sonne auf die Haut brannte und wo ihn niemand ansah, als wäre er der Teufel persönlich.
Die ersten Hütten, an denen er vorbeikam, waren aus dünnen, morschen Stöcken und Ästen gemacht, die wahrscheinlich nicht mal Regen abhalten würden. Sie schienen zum Schlafen da zu sein, denn im inneren lagen mehrere Matten aus Geflecht auf dem Boden.
Ein paar Meter weiter entdeckte er noch eine dieser befestigten Hütten, wie Raya's. Die Holzstämme waren dick und - statt aufeinandergestapelt - senkrecht in den Boden gegraben und wurden von dicken Seilen gehalten.
Vor dem Eingang der Hütte war ein altes Betttuch aufgespannt, in dessen Schatten ein Junge saß, der einen Holzspeer gelangweilt in den Händen hin und her drehte. Als er Dylan entdeckte, sprang er auf und richtete den Speer auf ihn, als würde er ihn für den bloßen Gedanken, näher zu kommen, sofort aufspießen.
Schnell wandte er sich ab. Sein Blick fiel auf den Wald. Für einen Augenblick glaubte er, dort etwas aufblitzen gesehen zu haben, doch dann war es wieder verschwunden.
Was auch immer es gewesen war, plötzlich hatte er das Verlangen, einfach in den Wald hineinzulaufen und sich irgendwo im Schatten der Blätter hinzusetzen. Der perfekte Ort zum Nachdenken. Und zum Pläne schmieden. Denn er brauchte definitiv einen guten Plan, um diesen Irren zu entkommen.
Er versuchte, nicht zu offensichtlich davonzulaufen und tat so, als würde er bloß herumspazieren. Als er endlich im Wald war, atmete er erleichtert auf. Jeden Moment hatte er damit gerechnet, von jemandem angesprochen zu werden, der wissen wollte, wohin er ging. Aber anscheinend schien das niemanden so recht zu interessieren.
Erst jetzt, wo er im Schatten stand, merkte er, wie verschwitzt er war und wie sehr seine Haut von der Sonne prickelte. Als er sich eben im Spiegel gesehen hatte, war er blass wie ein Gespenst gewesen, als wäre er Jahre lang nicht an der Sonne gewesen. Und jetzt, wo sich das schlagartig geändert hatte, würde er wahrscheinlich den Sonnenbrand seines Lebens bekommen.
Er ging noch ein paar Schritte in den Wald hinein, dann ließ er sich am Stamm eines Baumes herunterrutschen, denn mit einem Mal fühlte er sich völlig ausgelaugt und erschöpft.
Nur für einen kleinen Moment, dachte er und schloss die Augen.

Date / Time: 11.24.2024 7:23pm

Ein Schub von Adrenalin durchschoss Dylans Körper, als er ein Geräusch hörte. Erschrocken riss er seine Augen auf und schaute sich um. Zwischen den Bäumen schien der Himmel viel dunkler zu sein, als zuvor. Wie lange hatte er geschlafen? Eine Stunde? Zwei?
Noch immer in Alarmbereitschaft ließ er seinen Blick weiter durch den Wald gleiten, um den Verursacher seiner Panik zu finden. Er fand ihn einige Meter entfernt in einem Baum sitzend. Es war ein Vogel, der an irgendetwas herumpickte. Er war etwa so groß wie eine Ente, das Gefieder auf seinem Rücken braun und seine Kehle weiß wie Schnee. Und - wie er fand - ein ziemlich hässliches Biest.
Beruhigt atmete er aus und schloss noch einmal für einen Moment die Augen. Dann stand er auf und wollte sich zurück auf den Weg zum Strand machen. Sein Magen knurrte, sein Hals war staubtrocken und er hoffte, man würde ihm dort Essen und Trinken geben.
Er musste den Vogel irgendwie mit seiner raschen Bewegung aufgeschreckt haben, denn er gab einen unerwartet lauten Ruf von sich und wollte davonfliegen. Als er schon in der Luft war, hörte Dylan plötzlich ein zischendes Geräusch und dann den dumpfen Aufschlag, als der Vogel zu Boden fiel. Ein Pfeil steckte in seiner Kehle, er gab noch einen krächzenden Laut von sich, dann war er ruhig.
Er versuchte, den Schützen ausfindig zu machen, doch nirgendwo war etwas zu sehen oder zu hören.
Doch grade als er sich wieder zu beruhigen versuchte, brach plötzlich jemand hinter ihm durch das Unterholz und stieß ihn gegen einen der Bäume. Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde er grob mit dem Kopf gegen Holz gedrückt. Dann wurde er herumgewirbelt und erneut gegen den Baum gestoßen. Eine kalte, kräftige Hand schloss sich um seinen Hals und ein Messer wurde genau vor sein Gesicht gehalten. Sein Herz schlug so schnell, als wollte es gleich aus ihm herausspringen.
Die starren, dunklen Augen seines Angreifers fixierten ihn mit einer solchen Wut, dass es ihm kalt den Rücken herunterlief. Er versuchte, sich aus dem Griff zu winden, doch der Junge packte nur noch fester zu, sodass ihm beinahe die Luft wegblieb. Das Messer schnitt in seine Wange und ein schmales Rinnsal aus Blut lief herunter.
„Nicht genug, dass ihr andauernd hier herumstreunt, ihr müsst auch noch unsere verdammte Beute verjagen.", zischte der Junge.
Dylan hatte keinen blassen Schimmer, wovon er da redete. Was sollte er tun? Wenn er jetzt anfing zu reden, würde er es vielleicht noch schlimmer machen. Aber wenn er nichts tat, genauso.
„Ich habe keine Ahnung wovon du redest.", sagte er, überrascht, wie ruhig und klar seine eigene Stimme klang. Denn in ihm sah es ganz und gar nicht so aus. In seinem Kopf flogen tausende Gedanken durcheinander und er musste seine Fingernägel in seine Handflächen bohren, um nicht vor Angst zu zittern. Der Junge lachte, sodass die wirren, blonden Haarsträhnen, die ihm in die Stirn fielen, bebten.
„Das soll ich dir glauben? Für wie dämlich..."
Im selben Moment hielt er inne und runzelte die Stirn. Die Hand löste sich von Dylans Hals, packte stattdessen sein T-Shirt und zog es an der rechten Schulter herunter, so wie Raya es auch schon getan hatte. Eine ähnliche Fassungslosigkeit spiegelte sich auf dem Gesicht des Blonden wieder.
„Unmöglich.", murmelte er, trat einen Schritt zurück und ließ das Messer sinken. „Wer zum Teufel bist du?"
Dylan sagte nichts, sondern stand bloß da, ohne sich zu rühren. Komischerweise konnte er diese Frage selbst nicht richtig beantworten. Natürlich wusste er seinen Namen und kannte seine Herkunft. Und er konnte sich auch an seine Familie und sein Zuhause erinnern. Aber was sollte er auf diese Frage antworten? Er wusste selbst nicht wirklich, wer er war. Jemand, dem ganze Jahre seines Lebens gestohlen worden waren. Jemand, der sich seit einigen Stunden an einem seltsamen Ort befand, an dem es scheinbar nur durchgeknallte, gewalttätige Menschen gab. Jemand, der wirklich keinen blassen Schimmer von irgendetwas hatte. Das hätte er jetzt gern gesagt. Aber er schwieg.
Der Junge hob das Messer wieder. „Egal. Du kommst jetzt mit zu Raya. Was auch immer mit dir ist, sie wird darüber entscheiden."
Irgendwo in seinem Kopf schwirrte das Wort Déjà-vu herum. Na super. Irgendwie scheint heute alles zweimal zu passieren, dachte er und versuchte nicht allzu erleichtert zu sein. Auch wenn Raya ihm bis jetzt nichts getan hatte, konnte man nie wissen. Der Junge schob das Messer zurück in eine Halterung an seinem Gürtel und ging zu dem toten Vogel hinüber. Das Geräusch, als er den Pfeil aus dem Tier zog verursachte in Dylan den Drang, sich zu übergeben und er schüttelte sich angewidert.
„Du bist wirklich nicht von hier. Nicht mal die Anderen haben solche Weicheier.", stellte der blonde Junge fest und bedeutete ihm, dass er ihm folgen sollte.
Gehorsam trottete Dylan hinter ihm her, bis zum Strand. Am Waldrand ging der Junge aber statt nach rechts - wo sich Raya's Hütte befand - nach links.
„Müssen wir nicht da lang?", fragte Dylan unsicher und verlangsamte seine Schritte.
Der Junge sah ihn an, als hätte er grade die dümmste Frage gestellt, die man stellen konnte. Dann seufzte er.
„Wenn ich mit dem Vogel da auftauche haut sie mir den um die Ohren. Wenn du unbedingt willst, dass ich noch schlechtere Laune bekomme, können wir aber natürlich auch gerne auch erst aushandeln, ob ich dich töten darf oder nicht."
Abwehrend hob Dylan die Hände. „Ist ja gut. War ja nur eine Frage."
Sie liefen weiter am Strand entlang, bis sie zu einer abgelegenen Holzhütte kamen. Auch diese schien - wie die von Raya und die, mit der Wache davor - befestigt zu sein und als sie näher kamen, vermischte sich der Salzgeruch mit dem von gebratenem Fleisch. Es musste sich um eine Art Küche handeln.
Sie traten ein und sofort schlug ihnen dicke, abgestandene Luft entgegen. Dylan war sich sicher, dass man sie mit einem Messer durchschneiden könnte, würde man es versuchen.
„Hey, Adan.", grüßte der blonde einen anderen Jungen, der am Ende des Raumes vor einem großen Topf stand und darin rührte und warf den toten Vogel achtlos auf den Tisch vor ihnen.
Der Junge, der anscheinend Adan hieß, musterte den Vogel mürrisch. „Mehr gibt's heute nicht?"
„Hey, ich hatte anderes zu erledigen, ok? Schnibbel einfach ein paar Kartoffeln mehr.", wehrte der Junge genervt ab und stieß Dylan grob vor sich her aus der Hütte hinaus.
„Nur, falls du den heutigen Tag überleben solltest: Du solltest nicht so mit ihm reden, sonst landest du gleich mit in seiner Suppe."
Sie gingen weiter den Strand entlang, diesmal aber in Richtung von Raya's Hütte. Insgeheim nahm er sich vor, diesen Rat zu beherzigen. Falls er noch dazu kommen würde.

Bloodstained SandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt