Kapitel 3

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Unser Ausbilder John hatte uns einiges an Lernstoff mitgegeben, welcher nun auf meinem Screen zu sehen war. Ich kuschelte mich gemütlich in mein Bett und las die gefühlt tausend Informationsdokumente durch. Unnötiges Zeug und unglaublich einfach zu lernen, vor allem für mich. Wenn es darum ging, mir Sachen merken zu müssen, war ich ein absolutes Ass. Schon fast zu einfach, dachte ich, und schweifte ab. Wie das praktische Training wohl aussah? Würde ich tatsächlich irgendwann fähig sein, auf einen Menschen zu schießen? Was für eine blöde Frage, vermutlich würde ich niemals in meinem Leben als Beschützer dazu gezwungen sein müssen. Schließlich lebten wir in einer absolut friedlichen und glücklichen Gesellschaft. Aufstände oder ähnliches hat es seit dem Bestehen dieser Regierung noch nie gegeben, und das würde sicher auch so bleiben. Abgesehen davon, gab es heute zum Glück sowieso keine wirklich tötlichen Waffen mehr (die Munition der Pistolen bestand aus verschiedenen Nervengiften, die verschiedene Wirkungen hatten – ganz nebenbei sicherlich auch nicht sehr erlebenswert, aber allemal besser als diese Kugeln die damals den Menschen innerlich zerfetzten.) Wie das Leben hier wohl davor ausgesehen haben musste? Das will ich mir eigentlich gar nicht ausmalen, denke ich. Zahlreiche Gruselgeschichten kamen mir plötzlich in den Sinn. Sich gegenseitig umbringende Menschen, Verbrecher, denen es gefiel sich gegenseitig zu berauben und zu verletzen. Ein Leben, bei dem der Tod allgegenwärtig war. Viele sagen sogar, der Krieg war das Beste was uns passieren konnte, denn andernfalls würden wir niemals in dieser Idylle hier leben. Aber das kann ich einfach nicht glauben. Die Weltgeschichte wird meistens tot geschwiegen. Als Liam und ich noch Kinder waren, hatten uns unsere Eltern oft erklärt, dass viele schlimme Dinge geschehen waren, bevor wir so leben konnten wie wir es jetzt taten. Angefangen hatte es anscheinend mit Unruhen weit weg von Amerika, so hatte der Kontinent auf dem wir lebten, früher geheißen. Europa, Asien und Afrika (andere Kontinente) hatten sich laut meinen Eltern in einer tiefen Krise befunden, in der zahlreiche Unschuldige ihr Leben durch Anschläge von Extremisten und Terroristen verloren. Und irgendwann hatte dann irgendjemand eine Atombombe auf Asien gefeuert und dann schien anfänglich alles vorbei zu sein. Millionen Menschen mussten allen Anschein nach direkt gestorben sein, und zahlreiche andere verloren ihres Jahre später, durch Hungersnöte und Erkrankungen, die durch die Strahlungen verursacht wurden. Amerika – der Kontinent auf dem wir jetzt lebten – hatte natürlich versucht den anderen zu helfen, aber anscheinend schien für diese Seite der Welt bereits alles zu spät gewesen zu sein. Auch Amerika hatte mit den Folgen dieses grausamen Atomangriffs zu kämpfen hieß es, auch hier wurden die Essenvorräte knapp, da tausende Ernten durch Dreck, der bei der Explosion in unsere Atmosphäre geschleudert wurde, vernichtet wurden. Aber wir schafften es aus dieser dunklen Zeit und sind stärker denn je aufgestiegen, und aus dieser schlimmen Vergangenheit war etwas entstanden, das besser nicht hätte sein könnte. Eine Gesellschaft, die nur gemeinsam stark war, in der Gewalt kaum noch stattfand und in der Frieden und Akzeptanz herrschte. Viele in meinem Alter interessierte unsere Geschichte überhaupt nicht mehr, sie blickten nur nach vorne, unwissend wie viele Menschen ihr Leben verloren hatten, damit wir nun jetzt so leben konnten wie wir es taten. Das fand ich wirklich traurig, aber so war das eben nun mal. Die meisten kümmerten sich um nichts anderes, solange es ihnen selbst gut ging und das war bei den meisten der Fall. Seufzend schloss ich meine Dokumente auf dem Screen, die ich mittlerweile vermutlich auswendig konnte. Gerade als ich meinen Cursor weg räumte um mich schlafen zu legen, lugte mein Vater durch meine Zimmertür. „Darf ich reinkommen?", fragte er leise. „Natürlich, Paps. Setz dich zu mir.", antwortete ich lächelnd. Vielleicht würde er mir ja jetzt endlich erzählen, was ihn so belastete! Er setzte sich auf meine Bettkante und strich mir liebevoll über mein Gesicht. „Papa, ich weiß, dass irgendwas nicht mit dir stimmt. Du kannst es mir wirklich sagen, ich werde niemandem was davon erzählen, versprochen!", murmelte ich leise. Ein zögerliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Haley, du weißt wie sehr ich dir vertraue, aber jeder hat seine Geheimnisse. Mir geht es gut, mach dir nicht so viele Gedanken über mich.", antwortete er mir leise. Aha! Ich hatte also Recht behalten, doch was war nur sein Geheimnis und warum beschäftigte es ihn so? „Das muss ja ein sehr wichtiges Geheimnis sein, wenn es dich derart belastet und du niemandem etwas davon erzählen kannst." Fragend zog mein Vater eine Augenbraue hoch. „Vor dir kann man auch wirklich gar nichts verheimlichen, oder?", sagte er und lachte leise in sich hinein. „Vermutlich nicht, nein.", schmunzelte ich. „Wie war denn dein erster Ausbildungstag? Ich hatte ja gar keine Gelegenheit dich auszufragen." Natürlich lenkte er jetzt ab, wie typisch. „Ach, eigentlich ganz gut. Allerdings ist mit meinem Ausbilder echt nicht zu spaßen. Wenn du mich fragst, werden einige harte Wochen auf mich zukommen mit diesem Typ. Ich sag dir, der hat kein einziges Mal die kleinste Andeutung eines Lächelns oder von Freundlichkeit auf seinem Gesicht gehabt! Und außerdem hat er mir ein bisschen Angst eingejagt...", erzählte ich hastig. „Was, wieso das denn?", fragte mein Vater mich lachend. „Naja, erstens hat der gleich zwei andere Auszubildende nieder gemacht und uns allen ordentlich Druck aufgebaut, als der erzählt hat wie hart die Ausbildung wirklich werden wird, und dass es nicht jeder von uns schaffen wird.", Das Gesicht meines Vaters nahm einen besorgten Ausdruck an, nur für eine Sekunde. „Hm, der will eben, dass ihr alle von Anfang an voll dabei seid. Mach dir nicht so viele Gedanken darüber, es kommt sowieso immer alles anders als man denkt...", Ob der letzte Satz noch auf meine Ausbildung und meinen Ausbilder bezogen war, bezweifelte ich. „Ja, hast Recht, Papa. Ich sollte jetzt auch mal schlafen, danke für's reden.", sagte ich mit einem zaghaften Lächeln. „Immer wieder gern, meine kleine. Schlaf gut.", er drückte mir einen Kuss auf die Stirn, schaltete mein Licht aus und schloss dann schließlich sorgsam die Tür. Genauso, wie er sein Geheimnis tief in sich eingeschlossen hatte. Doch ich würde schon noch herausbekommen, was er so dringend vor uns zu verbergen versuchte.

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